Elysium Roman 2 – Kapitel 10: Die Karten sind neu gemischt
April 16, 2023
Harry, Abigail und Yuri atmeten schwer und erhoben sich nur langsam, während die Ausläufer der Wellen ihre Körper umspülten. Das Schwimmen zum Ufer hatte sie doch mehr ausgelaugt, als sie erwartet hatten. Es tat gut wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, wenngleich man diesen Sandstrand nicht direkt als festen Boden bezeichnen konnte. Von hier aus waren es etwa 25 Meter zur Promenade. Die einladend aussehende Vergnügungsmeile, die sich entlang des Strandes bis zum Yachthafen zog an dem sie an Bord der Sea Lord gegangen waren, war mit leicht futuristisch wirkenden Laternen und Neonschriftzügen erhellt. Selbst um diese Zeit waren noch Diskotheken und Bars geöffnet und man hörte gedämpfte Musik bis hierher ans Wasser, die sich mit dem sanften Rauschen des Meeres vermischte. Die wenigen Nachtschwärmer, die jetzt so kurz vor Sonnenaufgang auf der Promenade unterwegs waren, nahmen keine Notiz von den TRAP-Agenten in ihrer völlig durchnässten Kleidung. In weiter Entfernung konnten sie die Lichter der Sea Lord am Horizont entdecken.
Yanny war vor der Küste mit dem U-Boot aufgetaucht und hatte ihre drei Kameraden sozusagen aussteigen lassen müssen. Sie waren nicht umhin gekommen das letzte Stück des Weges zu schwimmen, weil das Boot sonst Gefahr gegangen wäre auf Grund zu laufen. Der Nordstrand hatte über eine weite Fläche keinen großen Tiefgang und war auf jeden Fall zu seicht für ein U-Boot. Am Yachthafen hingegen hätten sie mit dem Gefährt nur schlecht anlanden können, ohne bei den Hafenwärtern ungewolltes Aufsehen zu erregen. Yanny war daraufhin alleine weitergefahren und hatte sich auf die Suche nach einem guten Versteck für das Vehikel begeben. Es gab ein paar abgelegene Buchten mit Höhlen, die sich durchaus hierfür anboten. Sie würde von dort aus einfach mit dem erbeuteten, rätselhaft aussehenden Computer an Land und dann weiter zur nächsten Telefonzelle gehen. Jetzt eine Telefonzelle zu finden war auch der Plan der anderen drei. Wortlos und müde schlurften sie durch den hellen Sand auf die Promenade zu, als plötzlich ein weißer Klumpen aus Abigails pitschnassem Kleid zu Boden fiel. Im Moment als sie ihn aufhob, ergossen sich die ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages über den Strand.
„Was das ist?“, fragte Yuri. Abigail wusste im ersten Augenblick auch nichts mit diesem kleinen Klumpen anzufangen, als es ihr mit einem Mal in den Kopf schoss. Mit zitternden Händen versuchte sie, die völlig aufgeweichte Visitenkarte von Viktor Konakow auseinander zu falten. Alle Vorsicht war jedoch vergebens, der dünne Karton war vom Salzwasser komplett aufgeweicht und zerfiel dabei in zwei Teile. Name und Telefonnummer waren vollkommen verwischt und unlesbar geworden. Wie vom Donner gerührt stand sie da und starrte auf die traurigen Reste der Karte.
„Das… das ist doch jetzt nicht wahr…?“, hauchte sie ungläubig mit kratziger Stimme und biss sich hart in die Wange. Wie hatte sie nur so unglaublich dumm sein können und völlig vergessen, die Karte vor dem Schwimmen in irgendeiner Weise gegen das Wasser zu schützen?
„Was ist los?“, keuchte Harry, der sich wieder den schmerzenden Brustkorb hielt. Er und Yuri waren stehengeblieben und schauten sie fragend an. Abigail drehte sich zum Meer um und wurde von den Sonnenstrahlen geblendet. Im Gegenlicht war die Sea Lord nun nicht mehr zu erkennen. Die Kartenreste fielen aus ihren Händen zurück in den Sand.
„Nichts… es ist nichts…“, sagte sie mit einem dicken Klos im Hals und schlurfte dann mit hängendem Kopf weiter in Richtung Promenade. Harry zuckte daraufhin nur mit den Schultern und wankte hinter ihr her. Selbst das Tageslicht schien ihm nun in den Augen Schmerzen zu bereiten. Nur Yuri schaute noch einige Momente länger auf den Horizont. Würde er Lisa jemals wiedersehen?
„Ach scheiße…“, brummte er leise, seufzte tief und machte eine wegwerfende Handbewegung. Dann drehte er sich zu seinen Kameraden und rief ihnen von hinten zu: „Hey, meint ihr wir können Nippel zu Bronko Boyz auch schicken mit Post?“
Der Fotograf justierte das Objektiv seiner Kamera nach und warf einen kurzen Blick auf die Kontrolleuchte des Blitzes. Als er sich auf diese Weise vergewissert hatte, dass noch genug Energie in den Batterien vorhanden war, nahm er den vor sich liegenden, halb aufgefressenen Körper in den Fokus und betätigte den Auslöser.
„Der wievielte dieser Vorfälle war das jetzt?“, fragte er den neben ihm stehenden Beamten. Will Morgan seufzte und zog eine Zigarettenschachtel und ein Feuerzeug aus seiner Jackentasche, ohne den Blick von der Leiche vor sich auf dem Boden zu nehmen. Es war vollkommen unüblich, dass er sich als Hauptleiter der Mordkommission Elysiums selbst an einen Tatort begab. Der Mann mit dem auffällig altmodischen Monokel am rechten Auge war eigentlich dafür bekannt, lieber aus dem Hintergrund zu agieren. Diese Sache hier war jedoch mittlerweile zu auffällig, zu gefährlich und zu rätselhaft geworden.
„Der zwölfte…“, erwiderte er schließlich, steckte sich eine Zigarette in den Mund und zündete sie an. „>Vorfall< ist gut… das sind verdammte Massaker Mann, sehen Sie sich diese Scheiße doch nur an.“ Dabei deutete er mit einer großen Handbewegung über den ganzen U-Bahnhof, auf dem überall verstreut die Körper toter Fahrgäste lagen. „Und wir haben nichts außer diesen irren Gerüchten… Kleine humanoide Wesen mit kohlrabenschwarzer Haut, die auf allen Vieren laufend plötzlich aus dem Nichts wie Geister an U-Bahn-Stationen auftauchen und anfangen, Menschen zu töten. Dann verschwinden sie wieder, schneller als sie gekommen sind…“
„Der Zwölfte schon?“ Der Fotograf änderte seine Position etwas und schoss noch ein weiteres Bild. Morgan nickte und nahm einen tiefen Zug an seiner Zigarette.
„Aye. In sehr kurzer Zeit, und es passiert überall in der Stadt. Teilweise sogar gleichzeitig an weit von einander entfernten Orten. Wenn an den Gerüchten was dran ist, haben wir diese Wesen zuhauf hier unten. Es hilft nichts mehr, ich werde gleich morgen Bürgermeister Stanford persönlich informieren. Wir brauchen dringend Sicherheitskräfte an allen Stationen.“ Wieder klickte der Auslöser, dann hielt der Fotograf inne und sah nachdenklich in Richtung des U-Bahn-Schachtes.
„Die Tunnel sind alle miteinander verbunden?“ Langsam ließ er seine Kamera sinken und rieb sich nachdenklich das Kinn. Morgan nickte und stieß eine Wolke blauen Dunstes aus.
„Ich weiß genau was Sie meinen. Versteckmöglichkeiten gibt es zuhauf und wir haben definitiv nicht genug Leute, um das ganze verdammte Tunnelsystem durchzukämmen und gleichzeitig oben in der Stadt für Sicherheit zu sorgen.“ Der Fotograf presste die Lippen aufeinander und enthielt sich eines Kommentars zu dieser Aussage. Die Sicherheitslage war in manchen Vierteln bereits jetzt katastrophal. Plötzlich lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Hatte sich gerade eben dort hinten im Schacht etwas bewegt? Oder hatten ihm seine Augen einen Streich gespielt?
Die Reihe wird fortgesetzt mit dem Titel:
Die Frucht der Dunkelheit
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