Elysium Roman 4 – Kapitel 6: Ein Baum aus Beton
July 21, 2023
Sie waren gut eine halbe Stunde durch das Getümmel der Innenstadt gelaufen. Immer wieder hatten sie sich für einige Momente in Nischen und Hauseingängen versteckt, um nicht von den Streifenwagen gesehen zu werden, die sich seit kurzem mit Blaulicht in Richtung Zentrum bewegten. Die Massenschlägerei und der Tote hatten genug Aufsehen erregt um die Polizei zu alarmieren. Sie durften keinesfalls in deren Hände geraten, sonst war alles verloren. Keiner von ihnen hatte genug Geld, um sich aus einem Gefängnis freikaufen zu können. Sergej rechnete damit, dass die Beamten bereits über eine Personenbeschreibung von ihm und seiner Begleiterin verfügten. Immerhin hatten genug Leute seinen Kampf und den tödlichen Hieb mit dem Beil gesehen.
„Hier drüben!“, schnaufte das Mädchen und zeigte im Lauf auf den breiten Pfeiler einer grauen Bahnbrücke, die über die Hauptstraße verlief. „Lass uns dorthin rennen.“
„Wenn du meinst…“, keuchte Sergej bestätigend. Er hoffte inständig, dass er bald eine Gelegenheit für eine Pause bekam. Sein überdehnter Fuß brannte höllisch und er biss sich beim Laufen hart auf die Lippen. Eigentlich hätte er die Verletzung länger ausheilen lassen sollen. Immerhin war sein Knöchel im Stiefel bandagiert, mit einem Dauerlauf hatte er zum Antritt seiner Reise aber natürlich nicht gerechnet. Als sie den Brückenpfeiler erreicht und halb umrundet hatten, entdeckte Sergej auf der Rückseite eine rostige Leiter, die mit dicken Bolzen festgeschraubt war.
„Schnell, wir müssen da hoch“, zischte das Mädchen und deutete mit dem Kopf auf die Leiter. Sergej sah nach oben und erspähte an der Unterseite der Bücke eine Eisenklappe.
„Du zuerst“, erwiderte er knapp und ließ die Kette des Mädchens los, die er bis jetzt in der Hand gehalten hatte. Es war ein sonderbares Gefühl gewesen, sie an dieser Leine herumzuführen. Das Mädchen nickte hastig und begann sogleich ihren Aufstieg. Die Leiter wackelte und knarzte wenig vertrauenserweckend. Viele der Metallschrauben waren im Beton des Pfeilers über die Zeit hinweg locker geworden und das Gebilde gab unter dem Druck noch mehr knirschende Geräusche von sich. Trotzdem bahnte sie sich unbeirrt und furchtlos ihren Weg nach oben. Es mochten gut sieben oder acht Meter bis zu dieser Klappe sein. Sergej sah ihr nach und erklomm dann seinerseits die Streben, folgte ihr und versuchte nicht nach unten zu sehen. Er wusste um seine Höhenangst und hoffte inständig, dass er sich nicht noch in Kombination mit der Anstrengung und den Schmerzen würde übergeben müssen. Ein paar Passanten sahen verwundert zu ihnen auf, gingen aber weiter. Plötzlich näherten sich wieder Polizeisirenen und Sergejs Hände krampften sich vor Anspannung fest um die Leiter. Hier an dieser Stelle hingen sie für die Beamten wie auf dem Präsentierteller. Mechanisch kletterte er hinter dem Mädchen her, bis diese mit einem Mal inne hielt. Er hörte, wie sie an der Metallklappe nestelte, wie etwas scharrte und ihm mit einem Mal ein verrosteter Bolzen von oben auf die linke Schulter fiel, knapp an seinem Kopf vorbei.
„Entschuldigung“, gab das Mädchen oben von sich und kletterte weiter nach oben, während sie mit einer Hand die Klappe stöhnend nach oben drückte und im Inneren der Brücke verschwand. Innen angekommen, zog sie die Klappe ganz auf und deutete Sergej es ihr gleich zu tun. Er kletterte ebenfalls in den Hohlraum und das Mädchen schloss die Klappe hinter ihm schnell. Es war nun bis auf ein paar Lichtstrahlen von unten vollständig dunkel und deutlich wärmer als draußen. Er richtete sich vorsichtig auf, konnte in dem Hohlraum stehen. Dann hörte er, wie sie anscheinend auf dem Boden herumkroch und nach irgendetwas zu suchen schien.
„Was ist das hier?“, frage er leise, als würde er damit rechnen, dass sie in diesem Loch in jedem Moment entdeckt werden würden.
„Weiß nicht“, antwortete sie knapp mit gedämpfter Stimme. „Diesen Hohlraum gibt es schon immer hier. Ist vielleicht ein Lagerraum für Wartungsarbeiten? Habe allerdings nie mitbekommen, dass hier jemals Werkzeuge oder Arbeiter gewesen wären.“ Dann hörte er deutlich, wie sie eine Schachtel mit Zündhölzern schüttelte, die sie wohl auf dem Boden gefunden hatte. Sekunden später entbrannte eine Flamme und erhellte die Dunkelheit mit ihrem kleinen Licht. Das Mädchen sah sich kniend um, erblickte eine dicke und speckige Kerze und zündete diese an. Und dann noch eine und noch eine. Schließlich brannten ganze vier Kerzen, von denen noch viele weitere in einem Stapel an der Wand gelagert waren. Der Raum war etwa drei mal drei Meter groß und zwei Meter hoch. Auf dem Boden lag eine alte Matratze, ein Schlafsack und zwei Decken. Neben den Kerzen an der Wand standen fünf Konservendosen mit Fisch und Bohnen, soweit er die Aufschriften lesen konnte und ein paar Flaschen mit klarer Flüssigkeit.
„Du… bist nicht zum ersten Mal hier?“, fragte Sergej immer noch nervös, mehr um die Kommunikation mit ihr am Laufen zu halten und sich selbst zu beruhigen. Sie lächelte nur und faltete langsam die Decken auseinander um zu prüfen, ob sich in ihnen Ungeziefer befand. Bis auf zwei kleine Spinnen, die Sergej schnell zertrat, waren sie jedoch zum Glück alleine hier in diesem Hohlraum.
„Solche Orte gibt es viele in der Stadt“, begann sie leise zu erklären. „Du darfst niemandem erzählen, dass ich dich hierher mitgenommen habe.“
„In Ordnung“, sprach er bestätigend. „Ist aber auch leicht, ich kenne niemanden hier, dem ich es erzählen könnte. Außer… meinem Bruder.“ Er räusperte sich.
„Du suchst ihn, nicht wahr?“, stellte das Mädchen fest. „Deswegen bist du also in die Stadt gekommen. Du wohnst nicht hier, das sieht und hört man dir an“, sagte sie und lächelte immer noch dabei, während sie sich vor ihm auf die Matratze setzte und sich in eine der Decken hüllte. Er nickte nur. „Hast du eine Ahnung, wo er sich befindet?“, fragte sie.
„Ich hoffe ich finde ihn in der Kaserne. Er ist Soldat. Ist… oder war…“, erwiderte er zögerlich und wischte sich seine Haare aus dem Gesicht. „Es ist eine schwierige Geschichte, vielleicht sogar gefährlich. Vielleicht ist es besser ich erzähle dir nicht zu viel, glaube du bist auch so schon genug in Gefahr. Ich heiße übrigens Sergej.“
„Das ist schon in Ordnung, ich verstehe das. Du bist ein guter Kämpfer, Sergej“, antwortete sie und grinste etwas, während sie zu ihm hochsah. „Aksinja heiße ich.“ Jetzt lächelte auch er. Der Name, der >die Gastfreundliche< bedeutete, schien angesichts der Umstände jetzt gut zu ihr zu passen. Dann machte sie eine einladende Geste und bedeutete ihm, sich ebenfalls auf die Matratze zu setzen. Er folgte, legte vorher seinen Rucksack ab und setzte sich ihr gegenüber, zog dann seinen Stiefel aus und massierte seinen bandagierten Fuß. Sie beobachtete ihn dabei aufmerksam, nahm eine der Flaschen, zog den Korken ab und roch prüfend daran. Dann hielt sie ihm die Flasche hin. „Wasser gefällig? In einer der anderen müsste auch Wodka sein, wenn du den lieber hast“, erklärte sie. Er nickte ihr dankbar zu, nahm die Flasche und trank. Das Wasser schmeckte wie zu erwarten war etwas schal und irgendwie chemisch gereinigt, aber es erfüllte seinen Zweck. „Kannst du mir das alles erklären, Aksinja? Wer war der Mann, der dich hinter sich hergezogen hat? Warum hast du diese Kette um den Hals? Warum sollte ich sie nehmen, als wir davongelaufen sind?“, fragte er. Sie griff zögerlich zu dem Metallring um ihren Hals und drehte ihn ein wenig. „Ich trage das Ding schon ein paar Jahre, seit sie mich von meinen Eltern weggeholt haben“, erklärte sie. Erst jetzt fiel Sergej auf, wie sehr ihre Haut am Hals dadurch schon in Mitleidenschaft gezogen worden war, vernarbt und verschrammt. An dem Ring befand sich ein kleines aber stabil aussehendes Vorhängeschloss. „Warte mal einen Moment“, unterbrach er sie, öffnete seinen Rucksack und holte ein kleines Taschenmesser hervor. Dann näherte er sich ihr langsam und ergriff den Ring. „Nicht bewegen…“ „Was machst du da…“, fragte sie mit dünner Stimme, ließ ihn jedoch gewähren und hielt die Luft an. Wenig später sprang der Bügel des Schlosses auf und er warf es in die Ecke, öffnete vorsichtig den Metallring und befreite sie davon. Dann legte er den Ring samt Kette neben die Matratze. Sein Vater hatte ihm schon früh gezeigt, wie man Fallen und Schlösser mit wenig Hilfsmitteln öffnen konnte und Sergej verfügte über großes Geschick in derlei Dingen. Dieses Schloss war kein großes Problem für ihn gewesen. „Wer sind >sieEwigen Wölfe< nennen sie sich, eine der vielen großen Gangs hier in der Stadt. Ich bin eine Slumbewohnerin gewesen, aus den Armenvierteln am Nordrand der Stadt. Wir haben keine Rechte und niemanden, der für uns spricht oder sich für uns einsetzt. Viele von uns werden versklavt und verschleppt. Die Polizei unternimmt in den wenigsten Fällen etwas dagegen, weil uns auch niemand von Rang und Namen vermisst. Außerdem ist es ohnehin nahezu unmöglich jemanden in dieser Stadt zu finden, der nicht gefunden werden will oder soll.“
„Es gibt hier allen Ernstes Sklaverei?“, schnaufte Sergej ungläubig. Wie schon beschrieben war es bekannt, dass sich die Verhältnisse in den Städten immer weiter verschlimmerten. Dass es allerdings schon so weit gekommen war, damit hatte er nicht gerechnet.
„Ja. Hast du das nicht gewusst?“, entgegnete sie und er schüttelte nur den Kopf.
„Und dieser Typ den ich in Notwehr getötet habe, der war auch einer von dieser Gang?“
„Der gehörte auch zu ihnen“, bestätigte sie und fuhr sich durch ihre struppigen Haare. Je mehr sie sich beruhigte und klarer wurde, desto mehr kam ihr weiches und hübsches Gesicht zur Geltung. Dann trank sie ebenfalls von dem Wasser und rieb sich mit einer Handvoll davon das Gesicht sauber.
„Gut“, erwiderte Sergej knapp und grinste finster. Er hatte noch nie zuvor einen Menschen getötet, verspürte aber keine Reue deswegen. Er hasste die Idee der Sklaverei und konnte sich nicht vorstellen, wie jemand einem anderen etwas derartiges antun konnte.
„Nachdem sie mich verschleppt hatten, haben sie mir dieses Ding umgelegt um mich als ihren Besitz zu markieren. Und glaub mir, der Ring ist weniger schlimm als die Markierungen anderer Gangs… Die wirst du dein Leben lang nicht mehr los. Ich wollte, dass du die Kette auf unserer Flucht zumindest in der Hand hältst. Wenn ich mit dem Ding herumlaufe und keinen anderen habe der mich führt, werde ich von Gangmitgliedern sofort als entlaufen erkannt“, ging sie genauer ins Detail.
„Ich glaube ich verstehe“, antwortete Sergej langsam und winkte ab. Er konnte sich gut vorstellen, was dann passierte.
„Das hier, dieser Hohlraum, das ist eines der vielen Verstecke der Ratten. So nennt man uns, die wir aus den Slums kommen. Ratten, um uns die letzte Würde zu nehmen“, fuhr sie fort. Er wusste nicht genau, was er darauf antworten sollte. Noch während er etwas überlegte, begann ihr Versteck plötzlich zu beben. Die Erschütterung wurde immer stärker und Sergej war schon im Begriff aufzuspringen und sich kampfbereit zu machen, als sie seinen Unterarm ergriff.
„Keine Angst, ist nur ein Zug“, sagte sie so leise, dass er sie gerade noch hören konnte. Dann rumpelte und donnerte es auch schon über die beiden hinweg und als sich das Poltern der Wagons schnell wieder entfernte, hielt sie seinen Unterarm noch immer. „Danke“, murmelte sie leise, sah ihn dabei plötzlich ernst an. „Danke, dass du mich befreit hast.“ Er schluckte, als sich ihre Blicke trafen. Ihre Augen… sie waren so blau, so hell und klar wie das Wasser der Bäche in seiner Heimat, jetzt, da die Wirkung der Drogen endgültig verflogen war.
„Ich… ähm…“, stotterte er verlegen. Sie zog ihn langsam zu sich, kam gleichzeitig näher zu ihm. Ihr Gesicht näherte sich dem seinen.
„Sei nicht schüchtern. Ich habe sonst nichts, das ich dir geben könnte“, flüsterte sie.
„Du… musst nicht…“, entgegnete er stockend. Er kam sich unbeholfen vor, hatte kaum Erfahrung mit Frauen. Woher auch? Dort wo er aufgewachsen war, waren die Strecken weit und man traf andere Menschen höchstens auf dem Wochenmarkt.
„Ich weiß, ich muss nicht… und das ist schön. Sehr schön sogar…“, hauchte sie auf seinen Mund. Dann senkte sie sich ihm ganz entgegen, nahm seinen Kopf, glitt mit ihren vom Wasser noch feuchten Lippen über die seinen, saugte sich zärtlich an ihm fest. Zuerst war er wie versteinert, doch dann schloss er die Augen, schmeckte sie tief und innig und atmete ihren leicht verschwitzten Duft, der ihm köstlich und aufregend erschien.
„Du weißt wie man tötet, aber im Liebe machen hast du nicht viel Erfahrung?“, flüsterte sie neckisch in sein Ohr. Er errötete leicht, während sein Körper unter ihren Berührungen erbebte. Als sie schließlich seine kühlen Hände nahm und unter ihr Oberteil steckte um sie auf ihrer weichen Haut zu wärmen, da spürte er eine Kraft und ein Verlangen in sich, das er bis zu diesem Zeitpunkt nicht gekannt hatte. Sie befreiten sich gegenseitig hastig von ihrer Kleidung, immer wieder unterbrochen von leidenschaftlichen Küssen, als sich ihre Münder hungrig trafen um erneut voneinander zu kosten. Als er schließlich ausgestreckt auf der Matratze lag und sie unter den Decken langsam auf ihn glitt, da vergaßen sie endgültig alles um sich herum, vergaßen die Brücke in der sie sich befanden, die Stadt, die Angst und die Vergangenheit. In diesem Moment existierten nur noch sie beide, ineinander verschlungen und aneinander klammernd im flackernden Schein der Kerzen. Er folgte ihrem Rhythmus auf diesem Weg, den sie gemeinsam gingen, genoss ihren schweren Atem auf sich, bis sie schließlich ihr Ziel erreichten und sie in ihn hineinschrie, tiefer noch als das Licht der untergehenden Sonne sein Innerstes jemals hätte berühren können. So lag sie auf ihm, hielt ihn fest. Ihre Füße gruben sich unter seine Beine, ihre festen Oberschenkel um sein Becken gelegt.
„Aksinja“, hauchte er ihren Namen und machte einen Versuch, sich ein klein wenig zu bewegen. Sie ließ es nicht zu, spannte sofort ihre Muskeln an um ihn in der engen Umklammerung zu halten.
„Morgen erst. Morgen gehen wir weiter. Erst morgen“, sagte sie mit gedämpfter Stimme.
„J-ja…“, antwortete er lächelnd und genoss jede Sekunde dieser Gefangenschaft.
„Heute Nacht gehörst du mir. Verstehst du?“, murmelte sie, während ihren Lippen knabbernd an seinem Hals entlang spazierten und ihre Haare über sein Gesicht fielen. Ihr Ton war dabei verspielt bestimmend. Mit ernstem Unterton fügte sie dann jedoch an: „… mir hat nämlich noch nie etwas gehört.“
„Ich laufe nicht weg, ganz sicher nicht“, versprach er und stöhnte leicht, als sie sich wieder seinem Hals zuwand und ihr Werk dort fortsetzte.
„Gut, ich glaube dir. Morgen erst. Erst morgen…“, erwiderte sie zufrieden nuschelnd. Fortlaufen war das Letzte was er jetzt wollte. Auch wenn er sich seine Stadtreise ganz anders vorgestellt hatte.
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