Elysium Roman 4 – Kapitel 9: Ich sehe dich
August 11, 2023
Yanny nahm die Fernbedienung von dem kleinen Tisch auf und schaltete den Fernseher aus. Ralph war bereits eingeschlafen und schnarchte auf der Couch. Es war kurz nach zwei Uhr nachts und er hatte sich nicht mehr wach halten können. Sie betrachtete ihn etwas und scannte dann seinen Körper kurz mit der Wärmebildkamera ihres linken Auges ab. Dabei stellte sie fest, dass er im Schlaf etwas an Körpertemperatur verlor. Dann ging sie ins Schlafzimmer, holte eine leichte Decke und deckte ihn vorsichtig damit zu, um ihn nicht zu wecken. Zufrieden mit ihrem Werk ging sie in die Küche. Während des vorangegangenen Tages hatte sie die Arbeitsflächen noch einmal gründlich geputzt und aufgeräumt. Sie wusste es würde Abigail gefallen, wenn sich die Wohnung in einem nahezu hygienisch reinen Zustand befand. Yanny überlegte, während sie mit dem Zeigefinger über die blitzblanke Spüle fuhr. Nichts gab es mehr zu tun als zu warten. Von den anderen hatten Ralph und sie keine weiteren Anweisungen bekommen. Es war lediglich ausgemacht, dass sie nach drei Tagen ohne Nachricht die Polizei verständigen sollten. Allerdings war auch von Anfang an klar gewesen, dass die Polizei nichts würde ausrichten können. Sie würden keinen Suchtrupp losschicken, um eine Handvoll gemietete Agenten im gefährlichsten Areal der Stadt zu suchen. Außerdem war es schlichtweg nicht vorhersehbar gewesen, wohin es Harry, Yuri und Abigail dort unten in den U-Bahn-Schächten verschlagen würde. Im Moment konnten sie sich nahezu überall befinden. Yanny ging hinüber zum Kühlschrank und öffnete ihn, nahm eine Flasche Orangenlimonade aus der Türe, öffnete sie und roch daran. Der Duft war über alle Maßen verlockend und doch hielt sie ein, trank nicht. Es war nicht dasselbe, ohne die anderen zu trinken. Es machte keinen Spaß, würde ihr keine Freude bringen. Sie betrachtete die aufsteigende Kohlensäure in der Flasche, verschloss sie schließlich wieder. Was die drei wohl jetzt gerade machten? Ob sie in Gefahr waren? Sie ließ sich eine kurze Auswertung ihrer Gedanken des Tages erstellen. Alleine in den letzten 18 Stunden hatte sie sich 54 mal Sorgen um die anderen gemacht. Besonders um Harry. Er war zum Antritt dieses Auftrags immer noch nicht vollständig bei Kräften gewesen, auch wenn er das abgestritten hatte. Sie wusste es mit großer Genauigkeit, weil sie aus weiterer Sorge um ihn einige seiner Vitalfunktionen gescannt hatte, obwohl sie eigentlich fest versprochen hatte, dies nicht zu tun. Sie errötete, als sie darüber nachdachte. Warum sie dieses Versprechen nicht hatte einhalten können, konnte sie sich selbst nicht erklären. Wahrscheinlich war es eine Art permanente Fehlfunktion, die dieser humanoide Körper mit sich brachte. An die weit zurückliegende Vergangenheit als ihre Zentralrecheneinheit, der Chip in ihrem Kopf, noch in einem Siedlerschiff verbaut gewesen war, konnte sie sich kaum mehr erinnern. Diese Informationen hatte man von ihren Datenbanken gelöscht. Aber damals hatte sie mit Sicherheit zuverlässiger funktioniert.
Sie musste unweigerlich lächeln als ihr plötzlich der Moment wieder einfiel, als Harry auf der Sea Lord ihre Hand genommen hatte, um sie von dem schmierigen Ringansager Travis Campbell fortzuziehen. Es war eine schöne Erinnerung für sie. Sie wusste noch genau, wie sie sich in diesem Augenblick gefühlt hatte. Umsorgt und beschützt. Erst jetzt merkte sie, dass sie die Flasche mit der Orangenlimonade immer noch grundlos in der Hand hielt, öffnete den Kühlschrank daraufhin erneut und stellte sie zurück. Es war wirklich sonderbar. Sie vermisste ihre Kameraden und machte sich Sorgen. Dennoch vermisste sie Harry auf eine andere Weise und machte sich auf eine andere Weise Sorgen um ihn. Es war nicht weniger, nicht mehr, es war anders und sie konnte es nicht definieren, konnte kein abschließendes Fazit für sich finden. Sie fühlte, seit sie diesen Körper besaß und diese Gefühle führten zu keinem eindeutigen Ergebnis. Es blieb ein innerer Konflikt über das, was nicht in klaren Werten ausgedrückt werden konnte. Eine Unsicherheit, die sie immer wieder verwirrte. Es half alles nichts, vorerst konnte sie in keiner Richtung etwas unternehmen. Sie war den anderen am nützlichsten, wenn sie sich am Telefon bereit hielt, bis sie sich melden würden. Yanny hatte testweise alle zwei Stunden versucht, Abigail auf ihrem Mobiltelefon anzurufen, allerdings war keine Verbindung möglich gewesen.
Der Cyborg überlegte einen weiteren Moment und ging dann von der Küche leise über das Wohnzimmer hinein ins Schlafzimmer und schloss die Türe hinter sich, um Ralph nicht zu stören. Vielleicht konnte sie ja ein wenig an ihrem neuen Projekt arbeiten, um die Zeit wenigstens in irgendeiner Art und Weise sinnvoll zu nutzen. Auf der kleineren Kommode in der Ecke neben dem Eingang stand der Computer, den Abigail auf der Sea Lord in einem Lagerraum gefunden und mitgenommen hatte. Es war das rote Gehäuse mit dem silbernen Symbol, das acht Kreise zeigte, die durch gleichlange Linien miteinander verbunden waren. Das Symbol strahlte wie immer ein schwach pulsierendes Licht aus. Yanny hatte ihn schon vor ein paar Stunden an die Steckdose angeschlossen und über ein weiteres Kabel mit dem Teletextinternet verbunden. Bildschirm und Tastatur waren nicht angesteckt. Sie würde diese Peripheriegeräte für einen kleinen Test nicht brauchen. Wenn es sich hierbei wirklich um alte Technologie handelte, würde es ein leichtes sein, mit dem Computer zu kommunizieren. Yanny öffnete die oberste Schublade der Kommode und kramte kurz darin, nahm dann einen Haargummi heraus und band sich einen Pferdeschwanz. Dann nahm sie ein LAN-Kabel, das sie neben dem Computer bereit gelegt hatte, steckte es in die dafür vorgesehene Buchse an dem Gerät und setzte sich mit dem anderen Kabelende auf das Bett, das eigentlich aufgrund von Platzmangel viel zu nah an der Kommode stand. Dann tastete sie kurz ihren Hinterkopf ab und steckte das Kabel in die Buchse, die sich dort befand. Geschafft, sie war nun mit diesem Ding gekoppelt.
„Neues Gerät erkannt“, meldete sich die Systemüberwachung in ihrem Inneren. „Wie soll vorgegangen werden?“
„Verbindung aufnehmen, dabei die Aktivierung des Mikrofons im rechten Ohr um 40% senken. Ich will auf jeden Fall hören ob das Telefon klingelt und nicht zu sehr durch diese Verbindung abgelenkt sein.“
„Mikrofonaktivierung gesenkt“, erwiderte die tonlose Stimme. „Verbindung wird aufgenommen.“ Nach nur zwei Sekunden stand die Leitung zu dem Rechner völlig stabil und Yanny begann mit den ersten Systemprüfungen. Alles schien einwandfrei zu funktionieren, dieses Ding verfügte über eine enorme Rechenleistung und ließ sich problemlos von ihr steuern. Nachdem sie sich genügend mit seinem Betriebssystem vertraut gemacht hatte, war es an der Zeit für einen weiteren Test.
„Systemüberwachung: Firewall aktivieren und Recheneinheit mit Teletextinternet verbinden“, gab sie den gedanklichen Befehl an ihr Innerstes.
„Verbindung zum Teletextinternet wird hergestellt“, bestätigte die Systemüberwachung und draußen im Wohnzimmer begann das Modem zu quietschen, knacken und krächzen.
„Hupps… hoffentlich wacht Ralph nicht auf“, murmelte Yanny. Aus dem Wohnzimmer drang jedoch nur ein verschlafenes Grunzen des alten Punks.
„Verbindung zum Teletextinternet ist jetzt hergestellt. Darstellungsoption wählen“, gab das System zurück.
„Darstellungsoption? Bitte definieren“, erwiderte Yanny. Dieser Computer schien das Netz anders zu interpretieren, als es die Rechner der neuen Technologie mit ihren aus Pixel bestehenden 8-Bit-Bildern und der eckigen Serifenschrift taten.
„Die Darstellungsoption kann frei gewählt werden, eine in sich schlüssige dreidimensionale Umgebung wird dringend empfohlen“, erläuterte die Systemstimme. Yanny, die die Augen geschlossen hatte, zog dennoch aufgrund der Erklärung die Brauen hoch. Dreidimensionale Umgebung? In sich schlüssig? Also gut, wenn sie schon die Wahl hatte wollte sie etwas sehen, das sie noch nie zuvor gesehen hatte. Immerhin war sie seit Beginn ihres humanoiden Daseins nie aus der Stadt hinaus aufs Land gekommen.
„Darstellungsoption >Wald< bitte“, wies sie an. „Darstellungsoption wird geladen…“, antwortete das System. Momente später fand sie sich in einem leeren Nichts wieder, stand auf einem Boden, der nur aus schwach leuchtenden Gitternetzlinien bestand, die sich aus jeder Perspektive ins Unendliche zu erstrecken schienen. Ihr Körper leuchtete ebenfalls schwach, flackerte leicht als sie ihre Hand vor ihr Gesicht hob und langsam die Finger bewegte. „Wo bin ich hier?“, fragte sie in die Leere. Noch ehe das letzte Wort verklungen war, baute sich plötzlich eine ganze Landschaft um sie herum auf. Große Bäume wuchsen in den blau werdenden Himmel, über den malerische weiße Wolken zogen. Gräser und Büsche entstanden in Sekundenschnelle, das Zwitschern von Vögeln und das Zirpen von Grillen umgab sie. Dann schienen die warmen Strahlen der Sonne zwischen den Wipfeln der Bäume auf sie herab und als sie ihren Blick senkte, sah sie zwei tanzende Schmetterlinge, die sich gegenseitig umflatterten. „Dreidimensionale Umgebung vollständig geladen“, berichtete die Systemüberwachung. „Es ist wirklich wunderschön“, sagte Yanny und machte vorsichtige erste Schritte auf dem Waldboden. Diese simulierte Umgebung verhielt sich tatsächlich völlig natürlich. Während Yanny sich nun langsam durch diese Natur fortbewegte, berührte sie testweise Blätter, Baumstämme, Äste, Pilze… alles fühlte sich vollkommen real an. Es war absolut beeindruckend. Hoffentlich konnte sie irgendwie eine technische Lösung finden, um den anderen diesen Ort auch zu zeigen, wenn sie wieder von ihrem Auftrag zurückgekehrt waren. „Firewall mittlere Sicherheit“, meldete die Systemüberwachung mit einem Mal völlig emotionslos. Yanny stutzte. Sie hatte keine Anweisung gegeben, die Einstellungen der Firewall herunterzufahren. „Firewall auf hohe Sicherheit zurücksetzen, Bericht wird erbeten. Ich habe keine Anweisung gegeben um…“, begann Yanny mit einem fragenden Unterton. „Veränderungen an den Einstellungen der Firewall werden durchgeführt, einen Moment bitte“, wurde sie von der Systemüberwachung unterbrochen. Yanny blieb stehen und sah sich um. Sie war immer noch umgeben von schönen großen Nadelbäumen, die einen angenehm harzigen Duft verströmten. In einiger Entfernung konnte sie eine helle Lichtung ausmachen. „Bericht immer noch erbeten“, fragte Yanny erneut an und wurde langsam ungeduldig. Irgendetwas stimmte hier nicht. Nicht immer funktionierten alle technischen Geräte einwandfrei, das war ihr durchaus bewusst. Es war nur so ein… Gefühl. „Firewall lässt sich nicht auf hohe Sicherheitseinstellungen zurücksetzen“, meldete sich die Systemüberwachung. Yanny seufzte. Egal, es war ohnehin Zeit den Test zu beenden. Immerhin hatte sie einiges über diesen Computer und seine Funktionsweise herausgefunden, das Experiment war also geglückt. Um diesen Softwarefehler würde sie sich später kümmern. Plötzlich wurde sie stutzig. Hatte sich dort auf der Lichtung etwas bewegt? Sie machte ein paar Schritte nach vorne, als mit einem Mal der Umriss eines großen Mannes dort sichtbar wurde. Er war über zwei Meter groß und hatte eine sehr kräftige, muskulöse Statur. Seine schwarzen Haare waren zu einem strengen Seitenscheitel frisiert und er trug eine unbekannte schwarze Uniform. „Das kann unmöglich Teil der Darstellungsoption >Wald< sein“, flüsterte Yanny. Sie versuchte unweigerlich näher auf diese Gestalt zu zoomen, was allerdings nicht gelang. Natürlich nicht. Dies war nicht ihr eigener Körper, dies waren nicht ihre eigenen synthetischen Augen. Er war einfach zu weit weg um weitere Details erkennen zu können. Und doch kam dieser Mann ihr irgendwie bekannt vor. Es war jedoch nicht sein Aussehen oder seine Art sich zu bewegen. Es war etwas anderes, etwas, das ihn zu umgeben schien. Sollte sie es wagen sich ihm zu nähern? Während sie noch zögerte, begann der Mann sich langsam in ihre Richtung zu bewegen. Er hatte sie bemerkt. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, ihn besser erkennen zu können. Es gelang nicht. Im gleichen Moment hörte sie plötzlich in der realen Welt das Telefon klingeln. Sie musste die Verbindung abbrechen, es war mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Anruf von Abigail. Der Mann marschierte unbeirrt zwischen den Bäumen auf sie zu, erhöhte seine Geschwindigkeit. Sie musste hier raus, schnell!
„Systemüberwachung: Verbindung augenblicklich trennen, Rechner herunterfahren“, befahl Yanny.
„Verbindung wird getrennt, einen Moment bitte“, bestätigte die Systemüberwachung. Noch während sich die Umgebung um sie herum auflöste und ihre rechte Hand in der echten Welt langsam zu der Buchse an ihrem Hinterkopf wanderte, konnte sie hören, wie dieser Mann zu ihr sprach. Nur ein einziger Satz drang zu ihr hindurch.
„Ich sehe dich.“
Dann zog sie das Kabel aus ihrem Hinterkopf und eilte ins Wohnzimmer zum Telefon.
Die Reihe wird fortgesetzt mit dem Titel:
Die Jagd beginnt
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