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Elysium Roman 5 – Kapitel 3: Der Lord


Das Haus des Lords war nichts anderes als ein stillgelegter Militärbunker. Zu Zeiten der Besiedelung waren immer wieder Verteidigungsanlagen am Stadtrand gebaut worden, die mit zunehmender Expansion nutzlos geworden und anderen Zwecken zugeführt worden waren. Manche dieser alten Bunker waren später von der Polizei übernommen worden, andere wurden zu Warenhäusern umgebaut oder von Privatleuten mit genügend Geld erworben, die sich diesen Schutz leisten wollten. Der Lord, dessen richtigen Namen wahrscheinlich niemandem in der ganzen Stadt bekannt war, war einer dieser schutzbedürftigen Leute. Er schätzte die dicken, schmucklosen Mauern aus grauem Stahlbeton. Die wenigen kleinen Fenster, die wohl ursprünglich mehr als Schießscharten gedacht waren, hatte er mit schwarzem Panzerglas versiegeln lassen um auch noch den letzten Rest Sonnenlicht von sich fern zu halten.
„War es schwierig, das Teil zu bekommen?“, fragte einer der beiden Wachleute, mehr um sich die Langeweile zu vertreiben. Sergej und Aksinja warteten bereits seit zwanzig Minuten auf ihren Auftraggeber in dessen Büro, sofern man diesen Raum überhaupt als Büro bezeichnen konnte. Die Regale an den Wänden waren vollgestopft mit allerlei technischen Anlagen, von denen Sergej nicht die geringste Ahnung hatte, für welche Funktionen sie gedacht waren. Displays und Knöpfe flackerten und blinkten, es brummte und in unregelmäßigen Abständen gaben die Maschinen undeutbare Geräusche von sich. Einzig der Computer und das große CB-Funkgerät auf dem Schreibtisch konnte Sergej eindeutig zuordnen.
„Es war relativ problemlos“, antwortete Sergej und versuchte hierbei, möglichst neutral zu klingen. Aksinja stand neben ihm und betrachtete ebenso ratlos den undurchschaubaren, zwischen den ganzen Geräten hervorquellenden Kabelsalat.
„Nicht schlecht für einen ersten Auftrag“, sagte die Wache kopfnickend. Sergej zuckte als Antwort nur mit den Schultern. Ihm gefiel dieser Satz nicht. Es würde definitiv bei diesem einen Auftrag bleiben, er war nicht der richtige Mann für derlei Arbeit. Für eine Sekunde jedoch schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass er wahrscheinlich dennoch ein gewisses Talent für diese Tätigkeiten hatte. Immerhin war er bisher in der Stadt völlig unverletzt geblieben. Er hatte wohl einfach nur Glück gehabt, aber er empfand die Auseinandersetzungen mit Menschen als wesentlich einfacher, als die Kämpfe gegen die Wildtiere draußen in der Peripherie. Menschen waren wesentlich langsamer, er war von seinen bisherigen Gegnern andere Geschwindigkeiten und Kräfte gewohnt. Raubkatzen, Bären, hungrige Wolfsrudel, all das war im Vergleich hierzu eine völlig andere Herausforderung. Er wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen, als sich die Türe am anderen Ende des Raums öffnete. Eine weitere Wache trat ein und hielt den Weg offen. Dann erschien der Rollstuhl des Lords, der von einer elegant aussehenden Dame in einem grünen Abendkleid geschoben wurde. Ihre langen blonden Haare waren zu einer kunstvoll gedrehten Hochsteckfrisur aufgetürmt, ihr Makeup und Lippenstift in dezenten Grüntönen gehalten. Sie musste sich sichtlich anstrengen, um den ausladenden Körper des Lords vor sich herzubewegen. Der völlig außer Form gequollene Hausherr war seit Jahren an den Rollstuhl gefesselt, weil er aufgrund einer seltenen Krankheit beide Unterschenkel verloren hatte. Für einen Mann mit dem nötigen Kleingeld wäre es kein großes Problem gewesen, sich mechanische Prothesen anbauen zu lassen. Allerdings war dies aufgrund seines allgemeinen Gesundheitszustands ohnehin ein hohes Risiko und um überhaupt einen Operationserfolg erzielen zu können, hätte er zuerst wenigstens hundert Kilogramm Körpergewicht abnehmen müssen. Seine braunen und strähnigen Haare hingen lang und ungepflegt über sein wulstiges Gesicht mit den aufgedunsenen Lippen. Der Hinterkopf war jedoch kahlrasiert, hier hatte er sich drei Buchsen für verschiedene Kabelverbindungen direkt in den Schädel implantieren lassen. Die zugehörigen Kabel hingen ihm aus dem Hinterkopf zusammengeflochten über die linke Schulter und waren mit Etiketten versehen, um Überblick über ihre Funktionen zu behalten. Ansonsten trug der Lord als Kleidung nur eine Art grob genähten braunen Sack aus dickem Stoff, da ihm sonst nichts mehr zu passen schien.
„Oh sieh doch, was für eine wundervolle Überraschung! Der junge Herr Gromow und seine bezaubernde Begleiterin, Frau Zwetkow, haben den Weg zurück in unser bescheidenes Domizil gefunden. Tamara, es ist dies wahrlich ein Tag zur Freude“, sprach der Lord mit weicher und für sein Erscheinungsbild eigentlich viel zu hohen Stimme zu der Dame in dem grünen Kleid. Dabei machte er eine einladende Geste in Richtung seiner Gäste und deutete mit seiner geschwollenen Hand eine Verbeugung an.
„Danke“, antwortete Sergej knapp, der an den grotesken Anblick des Lords seit dem letzten Treffen mit ihm bereits gewöhnt war. Aksinja machte hingegen einen kleinen Knicks, weil sie wusste wie sehr er diese altertümlichen Umgangsformen schätzte. Der Gastgeber nahm diese Geste freundlich zur Kenntnis.
„Junger Herr Gromow, wäre es mir erlaubt Sie um die Mühe zu bitten, mir den begehrten Gegenstand zu überreichen? Es wird unsere Wiedersehensfreude ins Unermessliche steigern, wenn wir unseren kleinen Freundschaftshandel alsbald erfolgreich abschließen, dessen bin ich mir sicher“, flötete der Lord und sein Doppelkinn schwabbelte dabei im Rhythmus seiner Kieferbewegungen mit.
„Ja selbstverständlich“, bestätige Sergej und zog die kleine Diskette aus seinem Mantel hervor. Er hielt sie gut sichtbar hoch, ging zum Schreibtisch und legte sie in Reichweite des Hausherrn. Die Wachen beobachteten jede seiner Bewegungen dabei genau. Sergej wusste, dass auch nur die kleinste falsche Regung sein Leben in Sekundenschnelle beendet hätte. Der Lord streckte seine Wurstfinger nach dem Gegenstand aus, nahm ihn auf und besah ihn sich.
„Ich hoffe, der arme Jegor hat nicht zu sehr hierfür leiden müssen?“, erkundigte er sich dann ungewöhnlich fürsorglich.
„Er wird es kein zweites Mal machen“, winkte Sergej ab.
Dann schob der Lord die Diskette in das Laufwerk seines Computers, der vor ihm auf dem Schreibtisch stand und tippte einige Befehle in die Tastatur. Nach einer kurzen Weile begann er zu grinsen, denn was er auf dem Bildschirm zu sehen bekam schien ihn vollauf zufrieden zu stellen.
„Ein Ehrenmann wie er im Buche steht, Sie haben ausgezeichnete Arbeit geleistet“, lobte er Sergej.
„Freut mich, dass es Ihnen gefällt“, gab dieser zurück.
„Ein Ehrenmann bin auch ich, denn ich kann Ihnen sogleich die gewünschten Informationen liefern, die Sie so dringlich benötigen“, erklärte der Lord. Sergej zog überrascht die Augenbrauen hoch.
„Sie haben die Informationen schon? So schnell?“, sagte er überrascht und Aksinja begann neben ihm zu strahlen. Sie war sichtlich erleichtert, dass wohl nicht noch ein drittes Treffen hier im Bunker notwendig werden würde. Der Lord grinste breit und deutete auf die Kabel über seiner Schulter, die ihm hinten aus dem Schädel wuchsen.
„So ist es. Sehen Sie, mit diesen neuen Direktverbindungen ist es möglich, viel schneller und effektiver nach gewünschten Daten zu suchen, als auf die herkömmliche Art und Weise. Hach, es erquickt meine Seele wirklich ganz und gar, Ihnen damit behilflich sein zu können“, schwurbelte er. Tamara stand mit ausdruckslosem Gesicht daneben, öffnete dann eine der Schreibtischschubladen und zog ein Feuerzeug und eine Packung Zigaretten hervor, von denen sie sich eine anzündete und zu rauchen begann. Die Packung und das Feuerzeug legte sie wieder zurück.
„Also dann, ich bin ganz Ohr“, ermunterte Sergej seinen Gesprächspartner, endlich auf den Punkt zu kommen.
„Wie es scheint, sind Sie da einer ganz großen Sache auf der Spur, junger Herr. Zugleich auch einer sehr interessanten und ganz und gar ungewöhnlichen. Ich musste tief im Cyberspace abtauchen und viele Sicherheitsvorkehrungen umgehen, um zum Ziel zu kommen. Die Sache ist nämlich die: es handelt sich um eine – wie Sie natürlich schon vermutet haben – geheime Militäroperation. Die Größenordnung ist jedoch bemerkenswert und es hängen hier mehrere Dinge zusammen. Die Auswertungen der Personalakte ihres Bruders hat ergeben, dass er tatsächlich an der japanischen Front schwer verletzt worden ist. So schwer, dass ein Überleben auch nach eingehender medizinischer Behandlung im Grunde als ausgeschlossen galt.“
„Was? Wie?“, platzte es aus Sergej hervor. Ja, er hatte mit dem Schlimmsten gerechnet. Es nun allerdings durch eine fundierte Quelle bestätigt zu bekommen, hatte ein anderes Gewicht.
„Hier kommt das >Projekt Lazarus< ins Spiel“, fuhr der Lord unbeirrt fort. „Der Name wird Ihnen wahrscheinlich nichts sagen. Er geht auf einen uralten christlichen Bibeltext zurück und bezieht sich auf Lazarus von Bethanien, der von dem Messias von den Toten auferweckt wurde. Er ist der Sage nach also der erste Mensch, der aus dem Totenreich wieder zurückgekehrt ist und wurde als Heiliger verehrt.“ Sergej wurde aufgrund dieser Erklärung bleich im Gesicht. Er hatte bereits eine furchtbare Ahnung, worauf dies alles hinauslaufen könnte.
„Sie meinen, mein Bruder…“, stammelte er.
„Das Projekt Lazarus ist nichts anderes als eine Forschungseinrichtung der Partei, um den perfekten Supersoldaten zu erschaffen. Es ist die Verschmelzung von Mensch und Maschine, ein Krieger ohne Schwäche. Allerdings kaum ein Projekt, für das sich ein normaler Mensch freiwillig melden würde. Lazarus benötigte jemanden, der ohnehin keine Chance mehr auf ein Weiterleben gehabt hätte. Ihren Bruder. Sie haben sowohl sein Gehirn als auch sein Herz gerettet. Es schlägt nun in einem neuen Körper aus Metall, überzogen mit einer Haut aus Silikon. Es ist also genau so, wie Sie bei dem mir beschriebenen Treffen beobachtet haben, das war keineswegs eine optische Täuschung“, erklärte der Lord weiter. „Sie sagten Sie spüren, dass er noch am Leben ist?“
„Ja“, antwortete Sergej.
„Vielleicht haben wir die Antwort in dem immer noch schlagenden Herz ihres Bruders gefunden. Wäre das nicht eine Erklärung, die im Bereich des Möglichen läge? Gefühle, Ahnungen und emotionale Verbindungen lassen sich nicht messen. Aber nur weil wir etwas nicht messen können heißt es schließlich nicht, dass es nicht existiert, nicht wahr?“, stellte der Lord mit seiner hohen Stimme fest.
„Sagen Sie… gibt es dann noch andere wie ihn?“, fragte Sergej.
„Bisher ist er der Erste und Einzige. Es gibt da nämlich ein paar technische Herausforderungen, die es vorerst unmöglich machen, das Projekt Lazarus in eine Serienproduktion gehen zu lassen. Normalerweise würde ein Gehirn sofort absterben, wenn es von den restlichen Körperfunktionen getrennt wird. Das Gehirn Ihres Bruders wurde jedoch stark abgekühlt, um für die Transplantation Zeit zu gewinnen. Trotzdem hat es offensichtlich einen gewissen Schaden genommen. Wie viel von seinem Geist noch vorhanden ist, ist schwer zu sagen. Die wichtigsten Funktionen werden nun jedoch durch einen Chip unterstützt, der über eine wahrlich enorme Rechenleistung verfügt. Dieser Chip ist eindeutig alte Technologie, stammt aus einem der Siedlerschiffe. Was ich noch herausfinden konnte ist, dass er von einer Runnergruppe aus dem Süden für sehr viel Geld direkt an die Partei verkauft wurde. Er hat also auch hier auf 86 einen weiten Weg hinter sich.“
„Das heißt, das Gehirn ist die Schwachstelle bei der ganzen Sache? Wenn die Transplantation reibungslos verlaufen wäre, würden die Supersoldaten auch ohne alte Technologie funktionieren?“, hakte Sergej nach.
„Das kann man nach dem jetzigen Wissensstand so feststellen, ja. Das Gehirn im Zusammenspiel mit dem Chip sind jedoch nur zwei von drei Fäden, an denen diese Sache hängt. Es gibt noch eine dritte Komponente, eine sogenannte Steuerungseinheit. Ohne diese Steuerungseinheit lässt sich kaum vorhersehen, ob Ihr Bruder die ihm übertragenen Befehle auch wirklich ordnungsgemäß ausführen wird. Man hat ihn nämlich auch – und das will ich nicht verschweigen – für dieses Projekt ausgewählt, weil er in der Umsetzung seiner bisherigen Aufgaben nicht gerade zimperlich zu Werke gegangen ist“, führte der Lord weiter aus.
„Das kann ich mir gut vorstellen“, gab Sergej zu und ließ dabei den Kopf etwas hängen.
„In diesem Körper kann er ohne die Steuerungseinheit und mit seinem Temperament zu einem wandelnden Pulverfass werden. Seine Befehle bekommt er also über eine Funkverbindung per Satellitentechnik übermittelt. Sie werden überrascht sein, wenn ich Ihnen sage, wo sich diese Schaltzentrale derzeit befindet…“, grinste der Lord.
„Nicht in Neo Jakutsk?“, fragte Aksinja überrascht.
„Nein. Ganz und gar nicht“, grinste der Lord nun noch breiter. Er wusste, dass er mit den Informationen die er gleich preisgeben würde, unter Umständen ein kleines Vermögen hätte verdienen können. Dies war ihm jedoch vollkommen gleichgültig, denn er hatte großes Interesse an diesem Fall und es machte ihm sichtlich Spaß, Sergej mit immer neuen Enthüllungen zu verwirren und dabei zusätzlich sein eigenes Können zur Schau zu stellen.
„Wenn sie nicht hier ist, wo befindet sie sich dann?“, fragte Aksinja nach. Sergej presste die Lippen aufeinander und versuchte immer noch, das eben Gehörte zu verarbeiten.
„Sie werden wie gesagt überrascht sein. Und noch mehr wird es Sie überraschen zu erfahren, welchem Zweck all dies dient“, sprach der Lord gönnerhaft mit seiner weichen Stimme. Dann setzte er an und spielte seinen letzten großen Trumpf im Spiel der Informationen.


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