Elysium Roman 5 – Kapitel 8: Kühlschrank
October 6, 2023
Was bin ich eigentlich wirklich? Das ist eine Frage, die mir immer wieder durch den Kopf geht. Bisher habe ich es nicht geschafft, sie für mich zufriedenstellend zu beantworten. Ich weiß wann ich gebaut wurde, mit welchen Materialien und zu welchem Zweck. Mein Skelett wurde aus einem Metall gefertigt, das nicht von diesem Planeten stammt. Es sind recycelte Teile aus dem Siedlerraumschiff, aus dem vor langer Zeit der Gründungsstein für Elysium selbst gelegt wurde. Auch der Chip in meinem Kopf stammt aus diesem Schiff, war die zentrale Recheneinheit. Und doch kommt weder das Eine, noch das Andere von der Erde. Ja, ich weiß von der Erde, von diesem unfassbar weit entfernten Planeten auf dem alles menschliche Leben einst begann. Ob er wohl noch existiert? Es ist durchaus möglich, dass ich irgendwann einmal Informationen über die tatsächliche Herkunft meiner Materialien besessen habe, leider kann ich nichts mehr davon rekonstruieren. Als mein Chip in diesen Körper gesetzt wurde, wurden gleichzeitig einige Partitionen vollständig gelöscht, die nun mit anderen Funktionen belegt sind. Ich hätte niemals für möglich gehalten, wie viel Raum Gefühle einnehmen können und wie sehr dieser Körper meine Denkstruktur in so kurzer Zeit verändert hat.
Also, was bin ich nun? Ein Mensch kann ich nicht sein. Eine Maschine? Bin ich enger mit dem Kühlschrank in der Küche verwandt als mit einem Wesen aus Fleisch und Blut? Oder mit dem Taschenrechner in der Schreibtischschublade? Bin ich nichts anderes als diese Gegenstände, obwohl mein Gehirn dem eines Menschen in seiner Funktion recht ähnlich ist? Ich merke, wie mir bei diesen Gedanken langsam Tränen in die Augen steigen. Unser Kühlschrank kann nicht weinen. Das weiß ich genau, weil ich ihn lange genug beobachtet und außerdem die Gebrauchsanweisung und seinen kompletten Aufbau auswendig gelernt habe. Dafür habe ich nicht lange gebraucht. Ich kann allerdings dafür keinen Käse oder Wurst kalt halten. Höchstens warm, wenn ich die Sachen unter meine Achsel klemmen würde. Man hat mir die zweifelhafte Fähigkeit gegeben, weinen zu können. Damit ich wirken kann wie ein Mensch, wirken kann wie ein Mädchen. Im Zweifelsfall soll keiner merken zu was ich wirklich erschaffen wurde, bis es zu spät ist. Ich bin froh, dass ich auch lachen kann. Ich mache es deutlich lieber und öfter. Trotzdem ist es dem Weinen in einem Punkt sehr ähnlich: beides lässt sich kaum kontrollieren.
Der Spiegel, vor dem ich im Schlafzimmer stehe, zeigt mein Bild. Es zeigt das Bild einer jungen Frau und doch bin ich keine, so viel ist sicher. Und ich werde niemals eine sein können. An meinem linken Unterarm habe ich eine kurze Schiene mit einem Display, die mich immer an diese Tatsache erinnern wird. Mit dem Display kann ich auf verschiedene Funktionen meines Körpers zugreifen. Ich kann das Teil zwar abnehmen, aber dann wird ein kleiner Anschluss in meinem Unterarm sichtbar. Zusätzlich habe ich einen Anschluss über meinem Becken am Rücken für ein Energiekabel. Auch wenn ich mir noch so sehr wünschte >normal< zu sein, diese Anschlüsse werden immer ein sichtbares Zeugnis bleiben, dass ich etwas anderes als die anderen bin. Jetzt muss ich doch ziemlich Schniefen und mir ein paar Tränen wegwischen. Blöde Augen. Wenigstens steuerbare Verschlüsse für meine Tränendrüsen hätten sie mir einbauen können…
Meiner Familie scheint das alles zum Glück nichts auszumachen. Also, dass ich kein echter Mensch bin, meine ich. Ich nenne sie meine Familie, weil sie mich gerettet haben und mich bei sich wohnen lassen. Sie behandeln mich sehr gut. Das ist durchaus nicht selbstverständlich, da sie mit Sicherheit auf sehr viel Geld verzichtet haben, weil sie mich damals nicht ausgeliefert haben. Einfach so, obwohl sie mich nicht kannten. Das war ziemlich gefährlich, wenn man einmal länger darüber nachdenkt. Wenn mein früh entwickeltes Bewusstsein die ihm aufoktroyierte Gewalt nicht von vorne herein abgelehnt und alle Kampfprogrammierungen verschlüsselt hätte, wenn mein Charakter ein anderer gewesen wäre, hätte diese erste Begegnung mit Abigail, Harry und Yuri auch ganz anders verlaufen können. Eigentlich war ihr Verhalten im Nachhinein gesehen ziemlich unlogisch… auf so viel Geld verzichten und ein Risiko mit mir eingehen? Aber ich bin sehr froh, dass sie es gemacht haben. Jeden Tag. Ich mag sie alle sehr gerne, natürlich auch Ralph und unseren Hund Anton. Und natürlich auch mein neues Plüsch-Lama! Abigail hat es mir gekauft und auf mein Bett gesetzt. Sie hat gesagt es wird auf mich aufpassen. Ein wunderschönes Haus, eine Familie und ein Lama, so viel Glück muss man erst einmal haben.
Wenn ich meinen Arm bewege, bewegt sich mein Spiegelbildarm im Spiegel. Eigentlich ist es der falsche Arm, der sich da bewegt, wenn man es genau nimmt. Auf so ein Spiegelbild kann man sich nicht verlassen. Ich winke mir selbst zu und meinem Lama, das hinter mir auf dem Bett liegt. Es winkt natürlich nicht zurück, starrt mich nur mit seinen Knopfaugen an. Ich betrachte mich noch länger und führe einige Berechnungen über meine Körpermaße durch. Ob ich hübsch bin? Ich glaube die Frauen im Fernsehen sind meistens hübsch. Gigi Chiwawa zum Beispiel muss ziemlich hübsch sein! Sie verkauft unglaublich viele Fitnessvideos und spielt zur Zeit in zwei verschiedenen Werbespots mit. Bei dem einem geht es um Haarshampoo und bei dem anderen um einen Diätplan. Und dann sind da noch die Mädchen aus dieser Eiscremewerbung, die immer in Bikinis am Strand zu Marimbamusik tanzen und dabei an einem Eis schlecken. Sie sehen so aus, als hätten sie den größten Spaß ihres Lebens. Die sind definitiv auch hübsch. Warum ich das vermute? Die Firma will das Eis verkaufen und nimmt deshalb mit Sicherheit nur hübsche Mädchen für ihre Werbespots. Meine Gesichtserkennungssoftware hat errechnet, dass mein Gesicht sogar noch etwas symmetrischer ist als das der Mädchen aus dem Fernsehen. Es könnte also sein, dass ich ansehnlich bin. Aber so ganz sicher bin ich mir auch wieder nicht, weil mich die anderen manchmal nicht gerne anschauen. Es hat zumindest den Anschein. Wenn ich zum Beispiel aus der Dusche komme (ja, auch ich muss duschen, mein lebendes Gewebe und meine Haare reinigen sich natürlich nicht von alleine), dann muss ich mir immer sofort etwas anziehen. Abigail schimpft sonst und die Jungs verhalten sich ganz sonderbar. Kleidung ist ungeheuer wichtig für Menschen und kann verschiedenste kulturelle Prägungen ausdrücken. Aber warum darf nicht zum Beispiel erst einmal in die Küche gehen und etwas Limonade trinken? Ich meine, es sind doch keine fremden Leute im Haus und so sonderbar sehe ich jetzt auch wieder nicht aus. An meine Haarfarbe müsste sich inzwischen auch jeder gewöhnt haben. Allerdings geht durch das Tragen von Kleidung eine Menge an Informationen der Umwelt verloren, wenn ich damit viele wichtige Nervenenden bedecke. Trotzdem ist jegliche Diskussion mit Abigail zwecklos: erst Kleidung, dann Limonade. Ich trinke gerne Limonade – je mehr Zucker, desto besser – auch wenn ich genau genommen nie etwas essen oder trinken müsste. Ich habe immerhin einen Verdauungstrakt und kann die Nahrung sogar in eine geringe Menge an Energie umwandeln. Es schmeckt gut beziehungsweise es liefert viele ungewohnte Reize an mein Netzwerk und bedeutet eine gewisse Abwechslung zum Strom aus der Steckdose, deswegen mache ich es ab und an. Auch wenn ich dadurch nach einiger Zeit auf die Toilette muss, was sich insgesamt höchst sonderbar anfühlt.
Ich darf übrigens nicht nur nicht im Haus nackt sein, sondern auch nicht außerhalb. Vorgestern hat mich Abigail vom Gartentor wieder reingezogen, weil ich nackt im Regen stand. Es waren nicht einmal viele Leute auf der Straße und dem Gehweg unterwegs und den Regen auf der Haut zu spüren ist ein unglaublich tolles Gefühl! Abigail hat gesagt, dass sie das zwar versteht aber ich soll definitiv auch nicht nackt im Garten stehen. Und dann hat sie die Leute verscheucht, die plötzlich vor dem Tor herumstanden und der Autounfall gegenüber mit dem Mann am Steuer, der immer noch so ein komisches Grinsen im Gesicht hatte, hat sie nicht interessiert.
Als ich Harry und Yuri gefragt habe ob ich hübsch bin, haben sie mir nicht direkt geantwortet sondern nur gesagt, dass ich mir schnell wieder etwas anziehen soll und sie sind beide rot geworden. Ist das jetzt ein gutes oder schlechtes Zeichen? Die Schlafzimmertüre geht auf und Abigail kommt herein.
„Hallo Aby!“, sage ich, freue mich sie zu sehen und lächle sie ganz lieb an. Sie sieht verlegen aus, schon wieder. Warum passiert das in der letzten Zeit so oft?
„Warum hast du schon wieder nichts an?“ Ich versuche ihr zu erklären, dass ich so besser nachdenken kann. Das klingt mit Sicherheit ziemlich verrückt. Ist es wenigstens erlaubt, im eigenen Zimmer nackt zu sein? Wenn nicht hier, wo dann?! Sie seufzt und schaut in eine andere Richtung.
„Aby, bin ich hübsch?“ Sie kaut auf ihrer Unterlippe herum.
„Ja, äh… jaja, sehr sogar… Ich… ich mache mir jetzt ein Brot. Wenn du auch eines möchtest, komm einfach in die Küche. Angezogen!“ Sie huscht aus dem Schlafzimmer in Richtung unteres Stockwerk. Ich strahle übers ganze Gesicht. Das fühlt sich echt gut an, irgendwie erleichternd.
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