Elysium Roman 6 – Kapitel 4: Blau
November 24, 2023
Der Regen hatte vor ein paar Stunden aufgehört, immer noch fielen Tropfen von den Blättern und Nadeln der umliegenden Bäume. Lange hatte er angehalten und der Boden war aufgeweicht und schlammig, große Pfützen hatten sich rings umher gebildet. Besonders in den tiefen Reifenspuren, dort wo die Erde durch den hohen Druck des Gewichts der Fahrzeuge verdichtet worden war. Dichte Nebelschwaden krochen gleichförmig darüber hinweg. Die Krallen der großen Aaskrähe klammerten sich geschickt am Stoff der durchweichten Jacke fest. Sie interessierte sich nicht für die zahlreichen Regenwürmer, die von der Nässe aus der Erde getrieben worden waren. Sie hatte etwas besseres gefunden. Der Vogel plusterte sein weiß-schwarzes Gefieder auf während er über den leblosen Körper stakste, um dem aufkommenden kalten Wind besser trotzen zu können. Ein tiefer, krächzender Laut entfuhr ihm. Als er den Kragen der Jacke erreicht hatte, begann er auf den Hals des Körpers einzuhacken und nach und nach kleine Stücke aus dem gräulichen Fleisch zu reißen. Gierig schlang er sie hinunter und pikte immer tiefer in das Loch hinein, bis der Schnabel voll und klebrig war von dunklem Blut. Minuten vergingen und der Vogel stand plötzlich still, bis er unkontrolliert zu zittern begann. Panisch breitete er seine Schwingen aus, schlug mit ihnen und schrie, erhob sich von der Leiche und legte ein paar Meter fliegend zurück, bis er dann wie ein Stein zu Boden fiel. Im Schlamm liegend mit verdrehten Flügeln zuckte er noch ein paar Mal, bis das Leben endgültig aus ihm entwichen war.
Ein weiterer Tag verging und eine weitere Nacht, bis die Strahlen der Morgensonne erneut das Dunkel durchbrachen und den Leichnam berührten. Licht. Wärme. Ein stechender Schmerz, so tief und alles durchdringend, so intensiv und mächtig, als käme er aus einer anderen Welt. Der Leichnam erbebte. Das kalte, tote Herz tat einen Schlag und dann noch einen. Es holperte und stolperte unregelmäßig von einer Bewegung zur nächsten. Ein Muskel, der schon längst seinen ewigen Frieden gefunden zu haben schien, erwachte entgegen allen Gesetzen der Natur. Sergej hob langsam den Kopf, hob sein Gesicht aus dem Dreck und spuckte mühsam den Schlamm aus, der sich in seinem geöffneten Mund befunden hatte. Dann schnappte er nach Luft. Es brannte, als würde er flüssiges Feuer einatmen, ein Gefühl als würde sein Brustkorb jeden Moment zerbersten. Das Leben war zurückgekehrt zu ihm. Er wollte den Schmerz der in ihm tobte hinausschreien, aber es gelang nicht. Nur ein gurgelndes Stöhnen drang aus seiner Kehle, als er allmählich versuchte sich wieder aufzurichten. Mühsam rappelte er sich auf und taumelte, als hätte er eben erst das Laufen gelernt. Sergej versuchte einen Schritt zu tun, als ihm die Knie ihren Dienst versagten und er erneut vornüber in den Schlamm fiel. Alles drehte sich um ihn, er würgte. Eine halbe Stunde verging bis er einen nächsten Versuch wagte. Diesmal gelang es ihm besser. Der Schwindel hatte nachgelassen, sein Herz schlug gleichmäßiger, sein Atem beruhigte sich und er sah nun klarer. Er stand endlich, wischte sich unbeholfen den Dreck aus dem Gesicht und von den Armen. Dann erschrak er, als er seine Haut erblickte. Sie war grau, fleckig und seine Fingerkuppen fast schwarz. Was war geschehen? Wie kam er hierher? Das war kein Traum, dafür fühlte sich alles viel zu real an.
„Guten Morgen“, hörte er eine sanfte Stimme hinter sich sprechen und erschrak erneut. Als er sich umdrehte, sah er eine schlanke Gestalt auf einem großen Stein sitzen. Ihr Körper war verschwommen, nahezu durchsichtig. Sie schien wie aus mattem Licht zu bestehen. Gesichtszüge waren nicht auszumachen. Sergej vermochte nicht zu sagen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, auch die Stimme ließ keinerlei Schlüsse daraufhin zu. Er kniff die Augen zusammen und obwohl sich die Gestalt nur unweit von ihm befand, erkannte er dennoch keine Details.
„Wer sind Sie?“, fragte Sergej und lallte dabei. Es war furchtbar anstrengend zu sprechen. Seine Zunge fühlte sich taub und schwer an. Er war sich nicht sicher, hatte aber den Eindruck als würde die Gestalt auf diese Frage hin erheitert wirken.
„Ihr braucht Namen, nicht wahr? Nenn mich einfach Stella“, antwortete die Gestalt und blieb weiterhin ruhig sitzen.
„Stella?“, wiederholte Sergej und wischte sich die langen, verklebten Haare aus dem Gesicht. Es klang für ihn wie der Name einer Frau, besagte aber hinsichtlich des Geschlechtes offensichtlich nichts. Es schien eher so, als hätte sich die Gestalt gerade eben eine Bezeichnung für sich selbst einfallen lassen.
„Wie ist dein Name?“, stellte Stella eine Gegenfrage. Sergej überlegte. Sein Name… Er brauchte einige Momente, bis es ihm wieder einfiel.
„Sergej. Sergej Gromow“, antwortete er schließlich. Das war doch sein Name, oder etwa nicht?
„Du fühlst dich jetzt mit Sicherheit noch schlecht, Sergej“, stellte Stella fest und musterte ihn dabei eingehend. Er spuckte auf die Frage hin ein Gemisch aus Erde und Blut auf den Boden, das ihm soeben vom Magen in den Mund hochgekommen war. Seine Kleidung war durchtränkt von Schlamm, immer wieder fielen kleine Klumpen von ihm ab. Er sah aus wie eine frische Moorleiche.
„Ja“, bestätigte er und überlegte wieder. „Wie komme ich hierher?“
„An was erinnerst du dich denn?“, gab Stella zurück.
„Ich weiß noch, dass ich gefahren bin. Mit… mit irgendetwas. Oder auf irgendetwas. Dann waren da Farben und ein Blitz. Ein Blitz, der mich durchschlagen hat…“ Während Sergej versuchte sich zu erinnern, glitt seine Rechte unweigerlich zu seinem Bauch. Da war ein Loch in seiner Kleidung. Er zog seine Jacke aus und ließ sie auf die Erde fallen. In diesem durchweichten Zustand nützte sie ihm ohnehin nichts mehr. Dann zog er sein Oberteil hoch und befühlte seine Haut. Da war eine Narbe, wie von einem Einschussloch. Konnte es wirklich sein, dass er erschossen worden war? Er tastete seinen Rücken ab und fühlte auch dort eine Narbe. Sie saß ein wenig tiefer als die auf seinem Bauch. „Was ist geschehen? Was ist mit mir geschehen?“, stammelte er nun fassungslos.
„Du warst tot. Es hat mich einiges an Kraft gekostet, dich wieder funktionsfähig zu machen“, entgegnete Stella, als ob es die normalste Sache der Welt wäre.
„Du hast… was? Ich war tot?!“, schnaufte er.
„Aber natürlich. Sergej, du liegst hier schon den neunten Tag mit dem Gesicht nach unten im Schlamm. Es gibt sicher Leute die ihren Atem lange anhalten können, aber damit wärst du alleiniger und ewiger Rekordhalter. Außerdem hast du deine Arme doch schon gesehen? Wie sieht denn ein Körper aus, bei dem der Verwesungsprozess eingesetzt hat? Im Übrigen, greif dir doch mal ans Genick“, erklärte Stella ruhig. Sergej war sich nicht sicher ob er wirklich begriff, was da eben zu ihm gesagt worden war. Er folgte jedoch und tastete sein Genick ab. Da war ein Loch in seinem Fleisch, so tief, dass er seinen halben Zeigefinger hineinstecken konnte.
„Was…?“, setzte er an.
„Du spürst den Schmerz noch nicht, stimmt doch, oder?“, sagte Stella und deutete auf seinen Hals. Sergej schüttelte nur den Kopf. Es stimmte, er spürte diese Verletzung nicht. Sollte ihn das beunruhigen? Er wusste es nicht.
„Wie kann das alles sein und … warum? Wenn ich tot war, warum hast du mich zurückgeholt? Wer hat mich getötet und was mache ich hier, mitten im Nirgendwo? Wo komme ich her?“, fragte er kraftlos. „Und wer bist du?“ Stella zögerte daraufhin mit einer Antwort.
„Ich kann dir nicht sagen wer ich bin. Noch nicht. Die Zeit ist noch nicht reif dafür, das wäre jetzt zu viel für dich. Und leider kann ich dir auch nicht sagen, wer du bist. Ich wünschte ich wüsste es. Dafür waren wir leider noch nicht lange genug verbunden“, nickte die Gestalt aus durchsichtigem Licht.
„Verbunden?“, hakte Sergej nach. „Inwiefern verbunden?“
„Ja, verbunden. Nun, wenn wir nicht verbunden gewesen wären, lägest du jetzt immer noch im Schlamm und würdest weiter verwesen. Ich denke so wie es jetzt ist, ist es für dich die bessere Variante.“
„Da bin ich mir ehrlich gesagt noch nicht so sicher. Aber was geschieht nun mit mir? Was soll ich tun?“, fragte Sergej weiter. Er war zu schwach und zu ratlos, um über all dies zornig zu werden. Er wollte nur Antworten und außer Stella konnte er niemanden fragen.
„Du wirst heilen. Es wird zwar noch eine ganze Weile dauern aber dein Körper wird sich erholen. Denke ich. Die Frage nach dem was du tun sollst, kannst du dir allerdings nur selbst beantworten. Horche tief in dich hinein. Vielleicht erinnerst du dich an etwas, vielleicht findest du etwas. Details aus deiner Vergangenheit. Vergiss nicht: auch dein Gehirn war neun Tage lang tot und womöglich sind deine Erinnerungen durch die entstandenen Schäden für immer verloren. Ein menschliches Gehirn nimmt enormen Schaden, wenn es nicht richtig durchblutet wird“, führte Stella aus. Sergej nickte nur resignierend und begann zu grübeln. Zuerst war da nichts, nichts außer seinem Namen. Es kam ihm so vor, als hätte er niemals eine Vergangenheit besessen, als wäre er ein unbeschriebenes Blatt Papier mit nichts als einer einzigen Unterschrift darauf. Dann erinnerte er sich an die Umrisse einer Frau, mit der er positive Gefühle verband. Mehr jedoch war da nicht. Kein Name, kein Ort, keine Stimme, keine Information. Er strengte sich noch mehr an, ohne Erfolg. Mit einem Mal dämmerte ihm etwas. Er hatte ein Ziel gehabt vor seinem Tod. Deswegen war er hier, hier im Nirgendwo. Er hatte nach Süden gewollt.
„Nach Süden“, murmelte er.
„Nach Süden?“, fragte Stella.
„Ja“, bestätigte Sergej.
„Und warum?“, gab die Gestalt zurück und machte eine schwer zu deutende Geste mit beiden Händen.
„Ich weiß es nicht. Nicht mehr, wie es scheint. Wohin kommt man, wenn man diesem Weg hier nach Süden folgt?“, erkundigte er sich und nickte in Richtung der schlechten Schotterstraße.
„Wir werden es erleben. Immerhin haben wir jetzt eine Richtung. Das ist ein Anfang“, meinte Stella mit einer nun fröhlicher wirkenden Stimme.
„Das heißt, du begleitest mich?“, fragte Sergej überrascht.
„Das werde ich. Wir sind doch jetzt verbunden. Für immer. Es kann nur sein, dass…“
„Dass was?“, unterbrach Sergej. Stella zögerte erneut mit einer Antwort, schien nach den richtigen Worten zu suchen. Sergej war zumindest klar, dass er weiter geduldig sein musste, wenn er mehr erfahren wollte.
„Lass es mich so sagen: wir werden sehen, wie sich dein Gehirn entwickelt“, entgegnete die Gestalt. Der ehemalige Jäger wusste sich darauf keinen Reim zu machen. Vielleicht würde sich alles doch noch finden? Es beschlich ihn allerdings das Gefühl, dass die Chancen hierfür schlecht standen. Aber Stella hatte recht: immerhin hatten sie jetzt eine Richtung.
„Bevor wir uns auf den Weg machen…“, begann er.
„Ja?“, merkte die Gestalt auf.
„Ich habe plötzlich so großen Hunger, du hast nicht zufällig etwas zu Essen?“ Stella wirkte erneut erheitert auf diese Frage hin.
„Auch das ist ein gutes Zeichen, ein Zeichen dafür, dass dein Organismus wieder in Bewegung kommt. Wenn du dort vorne im Schlamm nachsiehst“, die Gestalt erhob sich lautlos von dem Stein auf dem sie saß und deutete auf den entsprechenden Punkt, „dort liegt ein toter Vogel. Er ist schon etwas aufgeweicht aber er sollte noch essbar sein.“ Sergej wischte sich einen Klumpen Erde von der Schulter, in dem einige Grashalme steckten. Ein Vogel also, das klang gar nicht so schlecht. Er stapfte dorthin und hob die tote Aaskrähe auf und schlug dann den Weg der Schotterstraße nach Süden ein. Langsam und leicht humpelnd schlurfte er vor sich hin, während er dem Vogel in seinen Händen nach und nach die Federn ausriss, um ihn verzehrbar zu machen. Die matt leuchtende Gestalt schwebte wortlos neben ihm her. Nur das knirschen der Steine unter Sergejs Stiefeln war von dem ungleichen Paar zu hören.
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