Elysium Roman 7 – Kapitel 4: Komm und hol’ mich
January 26, 2024
Sonntag, 08:37 Uhr
Vollkommen geräuschlos war es hier im Übergang zur Dämmerzone des Ozeans auf einer Tiefe von rund 200 Metern, in die das Sonnenlicht nur noch schwerlich vorzudringen vermochte. Eine gute Ebene um verborgen zu bleiben und eine Basis zu errichten, die von unscheinbaren Schiffen leicht mit Versorgungsgütern zu beliefern war. Unter der Wasseroberfläche mit ihrem azurblauen Farbenspiel erstreckte sich ein schier endlos zerklüftetes Gebirge, vor Millionen von Jahren durch Verschiebungen der Kontinentalplatten und Vulkanausbrüchen entstanden. Stumme Zeugen der Geburt des Planeten 86 am Rande des bekannten Universums und weitestgehend unerforscht durch seine Bewohner. Die Tiefe schwankte bei den Gipfeln und den Tälern je nach Standort zwischen wenigen hundert bis hin zu 11.000 Metern, der herrschende Druck veränderte sich dementsprechend.
Langsam schwebte das Mini-U-Boot eine kleine Strecke mit abgeschaltetem Motor aus eigenem Schwung heraus diagonal nach unten und setzte mit einem sanften Ruck auf einem der mit grauem Schlamm gepolsterten Plateaugipfeln eines dieser Berge auf. Der Teppich aus schlammigem Bewuchs war das Einzige, was an Pflanzen hier noch existieren konnte. Es war nicht mehr weit bis zur Unterwasserbasis der Partei der Nordstädte, die allerdings immer noch außer Sichtweite war. Alle Funktionen bis auf den Aktivator der Luke mit der kleinen Schleuse, die ihnen nur einzeln den Ein- und Ausstieg ermöglichen würde, schalteten sich in Standby. Abigail zog das Datenkabel aus ihrem Hinterkopf, erhob sich von ihrem Sitz und überprüfte noch einmal mit einem kurzen Blick das Steuerpult. Dann sah sie auf den Minibildschirm an dem Armband, das Yannys Lebensfunktionen anzeigte. Jede Anzeige stand erwartungsgemäß auf 100 Prozent. Sie nickte zufrieden.
„Packen wir es an“, sagte sie leise zu ihren Kameraden. Als sie sich umdrehte, hielt ihr Harry bereits wortlos ihre kleine Sauerstofflasche und die Taucherbrille hin. Die Männer hatten die Zeit der Anfahrt genutzt und ihre eigenen Tauchausrüstungen angelegt. Die Tatsache, dass sie das letzte Stück des Weges ohne Gefährt zurücklegen mussten, brachte einen zusätzlichen Nachteil mit sich: waffentechnisch waren sie nur auf das Notwendigste beschränkt. Yuri hatte sich für einen stabilen Hammer aus dem Werkzeugkasten der Villa und eine Pistole entschieden, die er zusammen mit zwei Ersatzmagazinen in einem wasserdichten Beutel am Gürtel trug, ebenso wie Abigail ihren silbernen Colt. Harry hingegen hatte zwei Schlagringe für seine Fäuste und ein Wakizashi dabei, ein Kurzschwert japanischer Bauart mit einer Klingenlänge von gerade einmal 30 Zentimetern. Die Tauchanzüge die sie trugen waren zwar das Stabilste was sie auf dem Markt hatten finden können, Kugeln würden diese jedoch keine abhalten können. Drei schwach bewaffnete Leute mussten also genügen um die Basis der PZN zu erobern.
„Wenn die ihre Radarüberwachung im Auge haben, müssten sie uns ohnehin schon geortet haben“, meinte Harry, während er Abigail half die Sauerstofflasche auf ihrem Rücken zu befestigen.
„Unwahrscheinlich ist“, sagte Yuri, der bereits die Leiter hoch zur Schleuse erklomm. „Rechnen nicht mit Feinden von unter Wasser, Standort von Basis keiner weiß. Wenn, dann haben sie Radar nur nach oben gerichtet um normale Schiffe zu orten.“ Harry zog die Augenbrauen hoch. Sein Kamerad konnte recht haben mit dem was er sagte. Außerdem war er es, der die Denkweise ihrer Gegner am besten einschätzen konnte.
„Bist du dir da sicher?“, fragte Harry hoffnungsvoll.
„Kein Stück“, grunzte Yuri und verschwand in der Schleuse, deren Schiebetüre sich unter ihm schloss.
„Na toll“, murmelte Harry und knirschte mit den Zähnen, nickte dann Abigail zu als er sich vergewissert hatte, dass ihre Sauerstofflasche gut saß und richtig eingestellt war. Die Programmiererin versuchte sich in einem aufmunternden Lächeln und tippte ihrem Kollegen mit dem Zeigefinger auf die Brust.
„Selbst wenn sie uns erwarten, erwarten sie uns nicht durch den Ausguss…“ Harry lächelte zurück über den Scherz, den sie auf ihre eigenen Kosten gemacht hatte. Er wusste, wie viel Überwindung sie dieser Einstieg kosten würde. Wenige Minuten später schwebten sie alle nebeneinander lautlos ihrem Ziel entgegen und ließen das U-Boot hinter sich, während sich unter ihnen eine gähnende Schlucht aus stiller Schwärze auftat, auf deren Grund kein menschliches Leben möglich war.
Sonntag, 09:40 Uhr
Yanny näherte sich einem der kleineren Fenster der Müllverwertungsanlage. Ein kurzer Scan ergab keinerlei elektromagnetische Wellen in diesem Bereich. Es war so wie sie es ohnehin vermutet hatte: die Halle verfügte über keine Alarmanlage. Dafür gab es auch keinen Grund. Dort drinnen befand sich außer den Maschinen nichts von Wert und die riesigen Anlagen hätte niemand stehlen können. Mit einem Schulterblick vergewisserte sie sich, dass sie vollkommen unbeobachtet war und setzte dann das Lama auf dem Boden ab. Es wartete wie ein kleiner Hund auf das, was ihr Frauchen als nächstes machen würde. Von Yannys jetzigem Standort aus konnte sie den Agenturwagen mit Ralph nicht mehr sehen. Es musste schnell gehen. Sie berechnete einen Punkt auf dem Fensterrahmen knapp unter dem Verschluss auf der Innenseite, der ihr als der physisch schwächste ausgewiesen wurde. Dann nahm sie Schwung und trat mit voller Wucht genau auf eben diese Stelle. Es krachte und knirschte laut und die Fensterscheibe vibrierte so stark, dass man hätte meinen können, das Glas würde jeden Moment in tausend Splitter zerbersten. Als es sich beruhigt hatte, presste sie mit der Hand gegen den Rahmen und das Fenster öffnete sich, Teile des Schlosses fielen klimpernd auf der Innenseite zu Boden. Mit einer flinken Bewegung schlüpfte Yanny hinein und befand sich nun in der Halle. Wenige Sekunden später sprang das Plüsch-Lama hinterher und folgte ihr bei Fuß. Wieder scannte sie die Umgebung. Nichts, kein Ergebnis, sie konnte keine Herzschläge ausmachen. Alles verlief nach Plan. Mit leisen Schritten setzte sie nun ihren Weg zum Kontrollraum fort. Auf der Seite auf der sie eingestiegen war befanden sich eine Sammlung leerer Container, die hier zur Abholung bereitstanden. Weiter hinten begann das Förderband, das direkt zu einem riesigen Trichter führte. Unter dem Trichter stand die mächtige Zerkleinerungsanlage, in der der gesamte Müll der Stadt zuerst bis auf kleinste Partikel geschreddert und dann zu Würfeln gepresst wurde. Aus den Nachrichten hatte sie erst kürzlich erfahren, dass der Müll danach zu einer Wiederaufbereitungsanlage außerhalb Elysiums gebracht wurde. Das Areal war in die Schlagzeilen geraten, weil sich in dessen Nähe nun auch das neue Endlager für den Atommüll von POWERS Generating Plant befand. Der wahre Hintergrund für die Endlagereröffnung war allerdings verschwiegen worden. Es grenzte an ein Wunder, dass die Verstrahlung als der eigentliche Grund für die Crawlerkrise bis jetzt noch nicht an die breite Öffentlichkeit gedrungen war. Wahrscheinlich hätte es aber nichts geändert, da die meisten Leute ohnehin mit ihren eigenen Alltagsproblemen genug beschäftigt waren. Die U-Bahn war als das wichtigste öffentliche Verkehrsmittel wieder nutzbar und es wurden keine Passagiere mehr an den Stationen verspeist. Damit war das Thema für die Bevölkerung im Großen und Ganzen erledigt.
Yanny besah sich den Schredder ausgiebig. Er war ihre Chance, Lazarus vollständig zu vernichten. Sie musste die Anlage aktivieren, bevor sie sich selbst mit dem Teletextinternet verband. Über das Netz würde sie ihn zu sich rufen, ihre Koordinaten offenlegen. Für einen Moment überlegte sie, ob sie zusätzlich auch das Förderband anschalten sollte, entschied sich aber dann dagegen. Wenn ihr Gegner wirklich für eine kurze Zeitspanne kampfunfähig werden würde, war sie stark genug ihn eigenhändig über das Band hoch zum Trichter zu tragen, um ihn dort hineinzuwerfen. Wenn sich das Band dabei bewegte und irgendetwas schiefgehen sollte, war ihr das Risiko zu hoch dabei selbst mit in den Trichter zu fallen. Dann sah sie sich weiter um. Der Kontrollraum lag auf einer höheren Ebene, die über eine Gittertreppe zu erreichen war. Von dort aus zog sich eine Brüstung an den Wänden entlang rund um die gesamte Halle. Diesen Vorsprung würde sie nach Möglichkeit zu ihrem Vorteil nutzen können. Von dort oben konnte sie das Feuer auf Lazarus eröffnen und wenn sie schnell genug war, würde er sie vielleicht nicht all zu oft mit seinen eigenen Waffen treffen. Allerdings gab es auf dem Vorsprung kaum Deckung und das Geländer würde keinen Schutz bieten. Wenn es zu gefährlich werden sollte, würde sie hinunterspringen und ihn dann von dort so lange beschäftigen müssen, bis sich eine Gelegenheit zum Zuschlagen ergab.
Yanny stieg die Treppe empor und erreichte den Kontrollraum, das Lama hopste brav Stufe für Stufe hinterher. Eine einfache abgeschlossene Türe mit einer Milchglasscheibe trennte sie von ihrem Ziel. Sie holte aus und schlug mit dem Handballen gegen den Knauf, der Verriegelungsmechanismus konnte ihrer Kraft nicht standhalten, splitterte und die Türe öffnete sich schwungvoll. Normalerweise wäre sie eleganter vorgegangen, hätte einen Dietrich benutzt und keine Spuren hinterlassen. Unter diesen Umständen jedoch würde ein zerstörtes Schloss nur eine der kleineren Beschädigungen hier in der Anlage werden.
Der Kontrollraum hatte Ähnlichkeit mit der Steuerungszentrale des Atomkraftwerks von POWERS. Ein großer Rechner nahm fast den ganzen Platz des Raums ein, derzeit lief er im Ruhezustand. Von den unzähligen Kontrollampen brannten nur wenige und die sechs Überwachungsbildschirme waren ausgeschaltet. Im Raum befanden sich außerdem zwei durchgesessene Bürostühle, im Normalbetrieb steuerten hier zwei Ingenieure den gesamten Ablauf. Yanny suchte die Schaltpulte nach einem Datenkabeleingang ab und wurde schnell fündig. Sie schob einen der Stühle zur Stelle mit der Buchse, setzte sich darauf und verband sich mit ihrem eigenen Kabel, das sie aus der Hosentasche hervorholte. Wie das Gebäude in dem sie sich befand, so hatte auch die Steuerung der Maschinen und der Zugang zum Teletextinternet keinen nennenswerten Schutz installiert. Es erforderte kaum Anstrengung, das Passwort zu entschlüsseln und ihr den Zugriff auf alle Funktionen zu gewähren. Die Bildschirme und Kontrolleuchten aktivierten sich wie von Zauberhand, Yanny brauchte nicht einmal den dafür vorgesehenen Hauptschalter manuell zu betätigen. Sie überprüfte die Uhrzeit. Es war nicht genau abzuschätzen, wie lange Lazarus bis zu ihrem Standort brauchen würde. In ihrem Plan war sein Eintreffen aber nur eine von mehreren unbekannten Größen. Sie beschloss noch eine Stunde zu warten, bevor sie ihren Ruf absetzen würde und startete einen Timer in ihrem Kopf. Einem Menschen wäre die nun vergehende Zeit wohl unendlich lange vorgekommen, ihr dagegen machte dieses Warten in der ersten Phase überhaupt nichts aus. Die ersten 45 Minuten nutzte sie um ihre eigenen Systeme noch einmal bis ins kleinste Detail auf Funktionsfähigkeit zu überprüfen und die Leistung ihres Generators um weitere zwei Prozent zu optimieren. Als sie den Check beendet hatte und ihren Gedanken freien Raum gab, setzten jedoch die Sorgen wieder ein. Es waren keine Sorgen um sich selbst, sondern um ihre Kameraden, deren Gesichter sie nun vor ihrem geistigen Auge sah, deren Stimmen sie hörte. All die schönen Momente die sie zusammen geteilt hatten, gemeinsame Erinnerungen, kostbarer als alles Geld, wertvoller als Ruhm und Besitz. Es waren Momente die sie verstehen ließen, dass es einen drastischen Unterschied zwischen bloßer Existenz und einem echten Leben gab, das für sie erst durch ihre Familie begonnen hatte. Sie hatte gelebt, gelebt gegen ihre Bestimmung. Ein sanftes Lächeln umspielte ihren Mund bei diesem Gedanken. 2,3 Prozent… Sie schloss die Augen und begann, das Netz nach der Präsenz ihres Bruders, nach Artjom Gromow, den sie nur Lazarus nannten, zu durchsuchen. Sie entdeckte ihn, es waren die Signaturen der PZN und die des Siedlerschiffes, deren Teil sie beide einst gewesen waren. Vor mehr als 400 Jahren. Die Zeit für ein Wiedersehen war gekommen, die ehemalige Steuerungseinheit der Waffensysteme gegen den Zentralrechner. Yanny war bereit und schickte einen Impuls mit ihren Koordinaten zum Empfänger.
„Du suchst mich, hier bin ich. Ich warte auf dich. Komm und hol’ mich.“ Sekunden später setzten sich in der Halle die Walzen des Müllzerkleinerers in Gang.
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