Elysium Roman 7 – Kapitel 9: Die Vernichtung
February 23, 2024
Er hatte sie fast erreicht, nur noch ein paar Meter. Es war sein letztes Magazin. Lazarus lud sein Sturmgewehr durch, hob die Waffe mit nur einer Hand und begann zu feuern. Die Projektile schlugen allesamt in Yannys Rücken ein, die immer noch verzweifelt versuchte über den Boden und von ihrem Gegner fortzurobben. Die Kugeln durchschlugen ihr menschliches Fleisch und rissen furchtbare Wunden, hinterließen an ihrem Skelett jedoch nur geringe Beschädigungen. Lazarus beobachtete sie zufrieden. Sie war wehrlos. Mit diesem zersplitterten Knie konnte sie ihm nicht mehr entkommen. Der Spaß ging jetzt erst so richtig los. In seinem tiefsten Inneren liebte er das Töten, es bereitete ihm Freude, er war in seinem Element. Es waren die Reste des Menschen ihn ihm, die bereits die Kontrolle übernommen hatten. Unbegreiflich für jede normal denkende Entität war doch die Bandbreite dieser Spezies Mensch, die sich zu den höchsten Höhen entwickeln und zu den niedersten Niederungen degenerieren konnte. Wäre er eine bloße Maschine gewesen, er hätte einfach seinen Auftrag ausgeführt. Jetzt aber, jetzt wollte er seine Gegnerin leiden sehen. Die Nordstädte hatten mit ihm mehr als nur einen Soldaten geschickt, mehr als nur einen Cyborg. Sie hatten seine Natur unterschätzt. Er war ein Killer. Aber mehr noch, er fühlte sich als ein Gott.
Yanny kroch weiter und nur noch ein Gedanke trieb sie voran: sie musste Zeit gewinnen, irgendwie. Das kleine Lama stand weiterhin oben auf dem Vorsprung und beobachtete mit seinen Kameraaugen die Szenerie. Es konnte ihr natürlich nicht helfen, lediglich Statusmeldungen an die anderen TRAP-Agenten übertragen. Lazarus sah nach links und nach rechts, stampfte dann auf die Wand zu und packte ein langes, armdickes Eisenrohr von gut einem Meter Länge, das er mit einem mächtigen Ruck aus seiner Verankerung riss. Heißer Dampf zischte in einem Schwall aus den nun freiliegenden Enden an der Wand hervor und ließ die Gummihaut seiner Hände über seinem Skelett zusammenschmelzen. Es kümmerte ihn nicht, er spürte es nicht. Er hatte jetzt genau das, was er brauchte.
Mit langen Schritten marschierte er auf sein Opfer zu, Yanny hatte bereits eine breite Blutspur über dem Boden hinterlassen. Dann holte er aus, nahm ihre linke Schulter ins Visier und schlug zu. Einmal, zweimal, dreimal, viermal. Das Eisenrohr bog sich durch und die Schulter brach. Schadensmeldungen rasten durch ihren Kopf. Sie konnte den Arm nicht mehr bewegen, würde sich nicht mehr fortschleifen können. Für seinen fünften Schlag ließ Lazarus sich etwas mehr Zeit, holte weiter aus. Yanny reagierte und drehte sich so schnell sie konnte auf den Rücken, zog den zweiten Colt mit der Rechten aus ihrem Holster und zielte. Zielte direkt auf das Gesicht von Lazarus und begann zu feuern, entleerte die gesamte Munition. Die Kugeln mit dem großen Kaliber prallten gegen den Schädel und hinterließen Dellen und Furchen, schlugen ihm einige Zähne aus, zerrissen die restliche Gummihaut seines Kopfs und legten nun vollständig seinen Skelettschädel frei. Die letzte Kugel aber hatte die größte Auswirkung. Sie traf direkt in die Linse seines linken Auges, die der Belastung des Aufpralls nicht standhielt und daraufhin in winzige Teile zerbarst, der Augapfel zerplatzte. Lazarus wankte ein paar Schritte zurück, während ihm Blitze und Funken aus der nun leeren Augenhöhle sprühten. Seine Systemsteuerung ließ eine erneute Schadensanalyse laufen und bestätigte die Zerstörung seines Auges. Immerhin hatte er noch ein zweites, es musste genügen bis er repariert werden konnte. Er gestand sich ein, dass er seine Gegnerin wohl doch unterschätzt hatte. Das sollte ihm nicht noch einmal passieren.
Wieder sah er sich um. Er brauchte eine Möglichkeit um sie vollkommen zu vernichten, würde sich nicht mit halben Sachen begnügen. Der Scan erinnerte ihn daran, dass in der Halle eine große Anlage aktiviert war. Der Müllzerkleinerer, natürlich. Diese Lösung erschien ihm optimal. Er ermittelte kurz ob es möglich war, sie dort zu dem Trichter hochzuschaffen und dann hineinzuwerfen. Das zugehörige Laufband der Anlage stand zwar still aber es sollte weiter kein Problem darstellen. Dieser Cyborg war nicht schwer zu tragen. Er musste sie nur noch ruhigstellen, damit sie sich nicht auf dem Weg nach oben wehrte.
Lazarus kam ein weiteres Mal näher. Yanny wollte nachladen und versuchte ihren linken Arm zu den Patronen an ihrem Gürtel zu bewegen. Es funktionierte nicht, der Arm gehorchte ihr nicht mehr, alle Nervenverbindungen waren gerissen und das Kugelgelenk im Inneren gebrochen. Er hing nur noch unbrauchbar an ihrem Torso. Mit dem noch intakten Bein versuchte sie sich von ihm wegzuschieben aber es war zu spät. Der russische Cyborg holte mit dem Eisenrohr aus und schlug in einer Halbkreisbewegung zu und auf ihren Kopf, zerriss ihr damit das menschliche Gesicht und zerstörte dabei ihr rechtes Auge. Ihre rechte Hand, die bis jetzt den Colt gehalten hatte, fiel kraftlos nach unten und ließ die Waffe los. Ihr Körper zuckte nun unkontrolliert in einer Aneinanderreihung von Fehlfunktionen. Der Hieb war gewaltig gewesen, hatte hunderte Kilogramm an Druck erzeugt und das Ende der dicken Eisenstange zerbrochen. Ihre Schädeldecke hatte dabei einen schmalen Riss davongetragen, der sich auf die gesamte Mechanik auswirkte. Systemsteuerung:
„Überlastung der zentralen Recheneinheit eingetreten, dauerhafte Beschädigung des Chips eingetreten, Notabschaltung eingeleitet.“ Der Zähler war aktiviert, zählte zehn Sekunden rückwärts. Yanny benötigte einen Moment um zu verstehen was geschah, konnte kaum mehr verarbeiten was diese Meldung bedeutete.
„Nein“, gab sie dann entschlossen zurück.
„Wenn der Abschaltung jetzt widersprochen wird, kann das die dauerhafte Zerstörung des gesamten Systems zur Folge haben.“
„Ich weiß. Ich weiß.“
Lazarus beugte sich hinunter, packte sie am Genick und schleifte ihren regungslosen Körper geradezu mühelos mit sich. Er betrat das Laufband, dessen Antriebsräder unter seinem hohen Gewicht knarzten und weit nachgaben, zog Yanny hinter sich her wie ein soeben erlegtes Tier. Sie bekam es nicht mehr vollständig mit, eher so als würde ein furchtbarer Film ablaufen in den sie nicht eingreifen konnte. Sie war nicht einmal mehr fähig zu rekonstruieren, warum sie mit ihrem rechten Auge nichts mehr sehen konnte. Yanny deaktivierte die endlose Schleife der Warnmeldungen in ihrem Kopf. Es war zu Ende. Sie hatte versagt. In diesem Zustand konnte sie Lazarus nicht mehr aufhalten, geschweige denn fliehen. Es war vorbei. Dann begriff sie was er jetzt vorhatte. Die von ihr gestellte Falle würde ihr gleich selbst zum Verhängnis werden. Das war es wohl, was man eine Ironie des Schicksals nannte. Die permanenten Walzengeräusche wurden lauter, je höher sie kamen. Schließlich hatte Lazarus das Ende des Laufbands erreicht und blickte nach unten. Direkt unter ihnen tat sich der gähnende Schlund des Trichters auf, in dem der gesamte Abfall der Stadt nach und nach landete. Hier waren sie also angekommen. Lazarus griff Yanny nun frontal am Hals und hob sie mit dem ausgestreckten linken Arm über den Trichter. Die tonnenschweren Walzen knarzten und mahlten unaufhörlich unter ihr. Ralph hatte recht gehabt, dachte sie bei sich. Sie hätte Harry sagen sollen, was sie für ihn empfand als noch Zeit dafür gewesen war. Ginge es nach einer rein logischen Überlegung mochte es keinen Unterschied mehr machen, denn was nun gleich folgte würde dasselbe Ergebnis hervorbringen: ihr Ende. Wie groß jedoch der wahre Unterschied war, erkannte ihre emotionale Seite erst jetzt in diesem Moment. Es gab also Worte die man aussprechen musste, solange man die Gelegenheit dazu hatte. Das Menschsein war so vielschichtig, so komplex und schön und sie bedauerte, nur wenig davon erfahren zu haben. Wie kostbar war die Zeit, wenn sie sich dem Ende neigte. Was gäbe man für einen weiteren Tag? Die letzten Augenblicke die ihr noch blieben, wollte sie nur noch an ihre Familie denken. Hoffentlich vergaßen die anderen sie nicht, wenn sie erst verschwunden war. Sie sah Lazarus mit ihrem verbliebenen Auge nur noch verschwommen, konnte die Linse kaum mehr scharfstellen. Es war dies nichts was zu bedauern war, denn sein Anblick war der aus einer widernatürlichen Experiment entsprungenen Menschmaschine.
Lazarus zögerte etwas. Er hatte gewonnen, brauchte nur noch loszulassen und sie würde nach unten in den Trichter stürzen, das Mahlwerk würde nichts mehr von ihr übrig lassen. Ihre Vernichtung sollte der Beginn des Falls dieser Stadt sein. Niemand konnte ihn aufhalten, niemand. Aber das genügte ihm immer noch nicht. Er streckte nun auch die rechte Hand aus und spreizte die Finger ab, zielte mit seiner blanken Handfläche auf ihre bereits gebrochene Schulter. Das Projektil, das gleichzeitig ein Enterhaken war, schoss aus seiner Handfläche, durchschlug Yannys linke Schulter und fraß sich mit den Widerhaken darin fest. Lazarus ließ das an dem Projektil befestigte Stahlseil vollständig aus seinem eigenen Unterarm abrollen und löste die Verankerung. Das blanke Seilende fiel nach unten in den Trichter und verfing sich direkt an einer der Walzen. Binnen Sekunden verwickelte es sich dort und die unaufhörliche Drehbewegung wirkte wie eine Seilwinde, übte einen unerbittlichen Zug aus. Der Enterhaken riss dadurch Yannys linken Arm ab, der in den Trichter fiel und dort sofort geschreddert wurde. Funken zuckten aus ihrer Schulter, aus der nur noch ein paar zerrissene Kabel hingen. Besser, dachte sich Lazarus, viel besser.
„Hände hoch! Ergebt euch!“, schrie Abigail und ihre Stimme überschlug sich dabei. Sie war einfach mit vorgehaltener Waffe in die Steuerungszentrale gerannt. Neben einigen Serverschränken befand sich dort ein Computerkomplex mit aneinandergereihten Bildschirmen und Tastaturen. Unzählige Lichter blinkten in verschiedensten Farben, analoge Zeigernadeln gaben Werte aus, die sie aufgrund der kyrillischen Schrift nicht lesen konnte. Drei Männer und zwei Frauen hielten sich hier auf. Zwei der Männer trugen eine schwarze Uniform die exakt der Kleidung glich, die auch Lazarus auf den Filmaufnahmen in den Nachrichten getragen hatte. Zu ihrem großen Glück war keiner der Personen bewaffnet, es handelte sich wohl ausschließlich um Wissenschaftler und Ingenieure, wie man aufgrund der Abzeichen auf ihren Armen schließen konnte. Widerwillig knieten sich alle nach und nach auf den Boden und legten die Hände hinter den Kopf. Diese Soldaten hatten zwar nicht verstehen können was Abigail eben geschrien hatte, ihre Absicht war aber natürlich eindeutig gewesen. Dann humpelte Yuri hinter ihr her in den Raum, ebenfalls mit der Waffe im Anschlag.
„Ich übernehme und halte in Schach Leute, du kannst knacken Steuerung“, schnaufte er. Dann stellte er sich neben sie und versuchte so gut es ging, die Begriffe auf den Bildschirmen ins Englische zu übersetzen. Das System war vergleichsweise einfach gehalten und es war von Vorteil, dass die Steuerung ohnehin bereits mit Lazarus verbunden war. Einige Eingaben und Versuche später stieß die Programmiererin allerdings schon an eine Barriere. Die Notabschaltung des Cyborgs war mit einem eigenen Passwort abgesichert. Es verlangte diese Sicherheitsabfrage selbst hier unten, tief im Ozean, damit wirklich nur autorisierte Personen diese unerbittliche Kriegsmaschine stillegen konnten. Abigail fluchte und hackte auf den Nummernblock ein, alles vergeblich. Genau in diesem Moment kam auch Harry in den Raum. Er war übel zugerichtet und sah so aus, als würde er jeden Moment umkippen. In seiner Rechten baumelte sein Kurzschwert. Abigail schnappte tief nach Luft als sie ihn sah. Er hatte es geschafft, er hatte überlebt! Auch Yuris Gesicht sah man an, dass ihm für diesen Moment ein schwerer Stein vom Herzen fiel. Allerdings verfinsterte sich seine Miene sofort wieder.
„Passwort! Wie ist das Passwort für die Notabschaltung!?“, schrie er die Soldaten auf Russisch an und gab einen Warnschuss in die Decke ab. Einer der beiden Männer in schwarzer Uniform schrie zurück:
„Wir sagen überhaupt nichts, du dreckiger Verräter!“ Dann spuckte er verächtlich gen Yuri.
„Was ist los?“, fragte Harry schwer atmend, der den Dialog nicht verstanden hatte.
„Wir brauchen sofort ein Passwort für die Notabschaltung von Lazarus! Das ist die letzte Sicherheitsbarriere, wir…“, Abigail würde noch im Satz durch ein Vibrieren des Bildschirms an ihrem Arm unterbrochen. Blankes Entsetzen spielte sich auf ihrem Gesicht ab, als sie auf das Display schaute. „Yanny ist so gut wie tot… ihr fehlt ein Arm… ein Bein… Ihr Körper reagiert nicht mehr!“, schrie sie. Harrys Augen erkalteten im gleichen Moment und er torkelte auf den ihm am nächsten knienden Soldaten zu.
„Ich schneide ihm das Passwort einfach heraus“, zischte er, doch Yuri hielt ihn zurück, stellte sich vor ihn und sah ihm in die Augen, sah seinen Hass und seinen Schmerz.
„Das sind meine Leute, alter Freund, ich machen das, ich muss mich kümmern darum…“ Mit diesen Worten drehte er sich wieder um und stakste auf die Soldaten zu. Harry folgte der Aufforderung nur widerwillig und blieb stehen. „Letzte Gelegenheit um das Passwort zu verraten, ich zähle jetzt bis fünf“, sprach Yuri laut und bestimmend auf Russisch. Dann riss er jedoch ohne zu zögern die Pistole hoch und schoss einem der Männer geradewegs in den Kopf, sodass dieser regungslos vorne überkippte und sich unter ihm eine Blutlache bildete. Die beiden Frauen begannen in heller Panik vor Angst zu kreischen. „Eins“, zählte Yuri ruhig.
„Das kannst du ruhig so durchziehen, du Verräter, von uns erfährst du nichts“, brüllte der Mann in der schwarzen Uniform, der zuvor in Yuris Richtung gespuckt hatte. Yuri schwenkte seine Waffe zu ihm um, zielte und drückte wieder ab, schoss ihm genau zwischen die Augen. Der Mann sackte tot nach hinten zusammen.
„Zwei“, zählte er weiter, mit einer seltsamen Gelassenheit in der Stimme. Abigail wimmerte leise und war kurz davor sich zu übergeben.
„1 9 0 8 1 7!“, schrie eine der beiden Frauen laut und dann gleich noch einmal: „1 9 0 8 1 7!“ Yuri nickte und übersetzte die Zahlenfolge auf Englisch. Abigail tippte sie augenblicklich mit zitternden Fingern in den Nummernblock der Tastatur.
Lazarus starrte auf seine Gegnerin. Ein erbärmliches Bild gab sie ab, dachte er sich. Sie hatte ihm zwar zugesetzt aber mehr als ein kleines Hindernis war sie dann doch nicht gewesen. Es war Zeit dieses Spiel zu beenden. Die Systemsteuerung schickte plötzlich einen Befehl an sein Nervenzentrum:
„Sofortige Notabschaltung.“ Sein Kopf zuckte, die Energie der Generatoren in seiner Brust sank rapide ab.
„Widersprochen!“, gab sein menschliches Gehirn den Impuls.
„Sofortige Notabschaltung, eingeleitet von Basis, Widerspruch abgelehnt.“
„Widersprochen!!!“ Sein Körper vibrierte kurz und taumelte am Abhang. Nur mit größter Mühe konnte Lazarus verhindern, durch den Fremdimpuls das Gleichgewicht zu verlieren. Die leblos hängende Yanny hielt er immer noch in der Hand, über dem Trichter baumelnd.
„Sofortige Notabschaltung.“
„Widersprochen!“
„Sofortige Notabschaltung.“
„Widersprochen!“ Verzweifelt versuchte sein organischer Teil sich gegen den Impuls der Basis zur Wehr zu setzten und geriet in eine Schleife aus Anweisung und Ablehnung.
Musik. Sie hörte Musik. An Yannys noch funktionierendes Gehör drang eine vertraute Melodie. Es war der Titelsong ihrer Lieblingsserie >Heroes of Ulthrard<. Lamas kleiner Mund hatte sich geöffnet und das Lied ertönte aus dem Minilautsprecher, den sie dort eingebaut hatte. Das mechanisch aufgerüstete Stofftier stand immer noch auf dem Vorsprung und funktionierte jetzt als Fanfare. Es war ein Zeichen das nur ausgelöst wurde, wenn Abigail ein Signal über den kleinen Bildschirm an ihren Arm zurücksandte. Das Zeichen, dass sie es geschafft hatten die Steuerungseinheit von Lazarus zu manipulieren. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihr Gegner nicht mehr richtig zu funktionieren schien. Ja, es gab da noch etwas, einen letzten Trumpf. Der russische Cyborg hatte ihn die ganze Zeit übersehen. Yanny zwang ihr verbliebenes Auge dazu sich scharf zu stellen und visierte den Mund ihres Gegners an, der aufgrund des zerschossenen Kiefers immer noch halb geöffnet war. Mit der rechten Hand, an der sie durch die vorherigen Treffer nur noch vier Finger hatte, griff sie nach unten in ihre Hosentasche und holte eine der beiden Granaten mit der übergroßen Sprengkraft hervor. Lazarus’ Kopf zuckte nach wie vor, er wankte und seine künstlichen Stimmbänder gaben abstoßende Geräusche von sich. Dann zog sie den kleinen Sicherungsring aus der Granate, umklammerte sie fest in ihrer Faust und holte aus, mit aller Kraft und allem Schwung den sie noch aufbringen konnte. Sie schlug die Faust mit dem Sprengsatz hinein in Lazarus halboffenen Mund, so tief hinein wie es nur irgend möglich war. Ihre Faust verkeilte sich darin.
„Hab ich dich… schon wieder…“, flüsterte sie.
Die erste Explosion war gewaltig. Yannys Überreste wurden durch die Druckwelle weit fortgeschleudert, bis über den Rand des Trichters hinweg, landeten mit einem entsetzlichen Krachen mehrere Meter entfernt vom Zerkleinerer. Lazarus’ Körper, dessen Kopf von der Detonation in kleinste Splitter zerrissen wurde, war wesentlich schwerer als der ihre. Der enthauptete Cyborg stürzte direkt vornüber in das Mahlwerk. Als dann die Walzen die Generatoren in seiner Brust schredderten, wurde dadurch eine zweite, noch viel stärkere Explosion ausgelöst. Die Energieerzeugung der Kampfmaschine wirkte wie eine Bombe. Ein Inferno war entfesselt. Die Fensterscheiben der Müllverwertungsanlage zerbarsten allesamt gleichzeitig, Glassplitter, Flammen und schwarzer Qualm schlug nach draußen, bis hin zu den umstehenden Gebäuden. Weißglühende Teile der mächtigen Anlage flogen überall durch die Halle umher und zerstörten auch alle anderen Maschinen die sich in ihr befanden.
Ralph erschrak, als er den Knall der Explosion hörte. Nun war er nicht gerade das, was man einen schreckhaften Typen nennen würde. Er wusste aber in diesem Moment, dass etwas schief gelaufen war. Er spürte es. Sie war nicht da, nicht zurückgekehrt. Warum war sie nicht hier? Er lief vom Auto weg, sah sich um. Sie war nicht zu sehen, kam nicht angerannt so wie es abgesprochen war. Er sah die Flammen und den schwarzen Rauch in der Entfernung.
„Nein“, wisperte er zu sich selbst. „Nein!“ Er kehrte wieder um, rannte zum Wagen und sprang hinein. Dann öffnete er das Handschuhfach und zog ein Halstuch hervor, wickelte es sich schnell über Mund und Nase, startete den Wagen und fuhr los. Der Motor heulte auf, als er im ersten Gang beschleunigte und das alte Auto rücksichtslos antrieb. Er musste es zumindest versuchen. Wenn er es nicht tat, würde er sich deswegen für immer Vorwürfe machen. Ralph steuerte die Straße hinab und dann um die Kurve, sah, dass das Eingangstor der Halle bereits aufgebrochen war. Vereinzelte Flammenherde loderten immer noch, obwohl es kaum brennbares Material in der Halle gab. Er hatte überhaupt nur eine Chance etwas zu sehen, weil sich der dicke Qualm mittlerweile an der hohen Hallendecke gesammelt hatte. Ralph stoppte den Wagen, stieg aus und riss den Kofferraum auf, schnappte sich das Abschleppseil und rannte in die Halle hinein. Rannte kreuz und quer zwischen Brandherden und glühenden Metalltrümmern hindurch, hustete stark, trotz des Tuchs um Mund und Nase. Die Hitze war unerträglich, seine Augen tränten, sein Herz raste. Er war nicht mehr der Jüngste, noch nie hatte er diese unbestreitbare Tatsache mehr gespürt als jetzt in diesem Moment. Seine Lunge brannte. Ralph lief noch tiefer in die Halle hinein. Für einen Augenblick schoss es ihm durch den Kopf, dass es wahrscheinlich nicht mehr lange dauern konnte bis das Dach über ihm einstürzen würde. Dann entdeckte er etwas zwischen zwei verbogenen Metallplatten liegen. Er lief darauf zu und als er Yannys Überreste erkannte, schrie er. Schrie aus Entsetzen und Verzweiflung. Ein Torso mit Kopf, ein Stück des rechten Arms, ein Stück des linken Beins, mehr war nicht übriggeblieben von ihr. Die Kleidung war verbrannt, einige letzten Reste menschlichen Gewebes überzogen den Körper nur noch stellenweise. Die Überreste rauchten, waren immer noch heiß von der Detonation. Was sollte er tun…? Er wickelte das Abschleppseil hastig um ihren Hals und verknotete es, eine andere Möglichkeit blieb ihm nicht. Würde er sie direkt berühren, würde er sich die Handflächen verbrennen. Dann zog er an dem Seil und begann zu marschieren, zog sie über den Boden hinter sich her durch die Flammenhölle. Das Abschleppseil schnitt tief in seine Schulter. Ein Schritt nach dem anderen, es war alles worauf er sich noch konzentrierte. Nur noch raus hier, den Ausgang erreichen, das war alles was er wollte. Raus hier, fort von hier! Als die Öffnung vor ihm sichtbar wurde, raste ein unerträglicher Schmerz über sein Genick. Er brannte, seine Lederjacke brannte, er hatte es nicht bemerkt. Ralph ließ das Seil fallen, riss sich panisch die Jacke vom Körper und warf sie von sich, warf sich selbst auf den Boden und rollte sich hin und her um die Flammen an Kopf und Hals zu ersticken. Wieder schrie er, diesmal vor Schmerz, hustete und keuchte. Das Halstuch fiel ihm dabei vom Gesicht. Nein, so konnte es nicht enden! Hoch mit dir, du alter Sack! Er stemmte sich zurück in den Stand und versuchte die grauenhaften Schmerzen in seinem Genick nicht zu beachten. Seine Fäuste klammerten sich erneut um das Seil. Er zog daran, zog Yannys Körper auch noch die letzten Meter aus der Halle. Aus der Ferne hörte man nun die Sirenen von Einsatzfahrzeugen der Feuerwehr und Polizei, die sich der Müllverwertungsanlage schnell näherten. Erste Schaulustige sammelten sich im Areal und grölten.
„So eine Scheiße, ick dreh hier noch durch! Jetzt kommen sie, die Ärsche!“, keifte Ralph wütend zu sich selbst. Wenn die Polizei ihn hier bei der zerstörten Halle mit den Überresten eines Cyborgs im Schlepptau fand, würden sie ihn festnageln und ihm Fragen stellen. Viele unangenehme Fragen. Bei dieser ohnehin schon schwer zu erklärenden Situation war sein üppiges Vorstrafenregister auch nicht gerade hilfreich. Er biss auf die Zähne und zog wieder an dem Seil, zog den rauchenden Körper in Richtung des geöffneten Kofferraums seines Wagens.
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