Elysium Roman 1 – Kapitel 1: Die Hoffnung auf einen Neuanfang
January 4, 2023
Wenn es stimmte, dass der Traum von Schönheit aus dem Schoße der Hässlichkeit geboren würde, so waren die drei an diesem Ort wohl im Epizentrum einer neuen Vision von Herrlichkeit und Pracht angekommen. Das ganze Viertel war erfüllt vom Gestank der Abwasserkanäle, den Autoabgasen und den Hinterlassenschaften von allerlei herumstreunendem Gesindel.
“Hier stinkt’s gewaltig. Ich merke schon wie mein Herpes kribbelt”, grunzte Abigail Lindsay und stapfte missmutig vorweg durch die Straße, die aufgrund der sich in den Himmel bohrenden umliegenden Hochhäuser mit Sicherheit noch nie von Sonnenstrahlen beschienen worden war. Ihre Gesichtszüge ließen deutlich erkennen, wie sehr sich die schmächtige Frau mit dem Kurzhaarschnitt und den ebenmäßigen Gesichtszügen ekelte.
“Danke für den Hinweis”, erwiderte Harry trocken und suchte weiterhin stoisch jede Fassade nach der passenden Hausnummer ab, während er einen großen Koffer auf Rollen vor sich herschob, der seine besten Tage schon längst hinter sich hatte. Auf Harrys Rücken, dessen echter Name eigentlich Harima Kenji war, hing ein griffbereites Katana. Es war der wertvollste Besitz der ihm geblieben war, seitdem er Fukumata, die “goldene Stadt”, die weiter südlich von Neo Tokyo lag, aufgrund eines schlecht gelaufenen Auftrags etwas überstürzt verlassen musste.
“Kann machen gute Creme gegen Herpes. Brauche nur ein paar einfache Zutaten, finde ich sicher hier in Straße”, brummte der kahlköpfige und muskulöse Hüne mit dem Vollbart, der seinen eigenen Koffer und den von Abigail seit mehr als einer Stunde gleichzeitig trug, ohne auch nur die geringste Spur von Ermüdung zu zeigen. “Ist günstiger als gehen in Apotheke”, fuhr er fort, um die Vorteile seines Angebots weiter hervorzuheben.
“Und wie willst du das anstellen?”, fragte Harry grinsend gen Yuri Sokolov, der neben ihm ging. Der Russe, der aus einer der Nordstädte weit entfernt von hier stammte, war noch nicht lange in Elysium. Dafür war sein Amerikanisch jedoch schon beeindruckend gut. Einen gewissen Grundstock musste er sich bereits auf anderem Wege angeeignet haben. “Willst du vielleicht ein paar Ratten auspressen, die hier um die Mülltonnen laufen? Davon gäbe es zumindest genug und sie sind kostenlos.”
“Die weißen mit den schwarzen Punkten gut für Creme”, nickte Yuri ernst. “Viel besser als graue oder braune.”
“Hört sofort mit dem Mist auf, das ist ja widerlich”, zischte Abigail nach hinten und schüttelte sich. Yuri zuckte nur verständnislos mit den Schultern und trottete weiter hinter ihr her, bis Harry plötzlich einhielt.
„Hausnummer 133, hier, wir sind da!“ Er deutete auf ein verrostetes Schild, das an einem größeren Gebäude angebracht war. Abigail, die gerade versucht hatte eines der Schilder auf der anderen Straßenseite zu erkennen, drehte sich nun ebenfalls zu dem Haus um. Es war eine der typischen billigen Mietskasernen für die ärmere Bevölkerungsschicht, die den Laden in der Stadt sprichwörtlich am Laufen hielt, während sich die Profiteure des System in den schickeren und moderneren Hochhäusern gemütlich eingerichtet hatten. Überraschenderweise schien sich dieses Bauwerk noch in einem vergleichsweise guten Zustand zu befinden. Sie waren in diesem Viertel an weitaus heruntergekommeneren Gebäuden vorbeigekommen. An der ein oder anderen Stelle bröckelte zwar schon der Putz von der Fassade und vereinzelt waren die Fensterscheiben mit Teppichklebeband notdürftig geflickt worden, aber es hätte sie schlimmer treffen können. Immerhin zeigte die Polizei hier in der Innenstadt eine gewisse Präsenz, was auf lange Sicht hoffentlich verhindern würde, dass ihnen irgendwann beim Abendessen ein Molotow-Cocktail ins Wohnzimmer flog. Das machte die Miete in dieser Gegend zum Beispiel teurer als sie im Nordviertel gewesen wäre, Abigail hatte jedoch auf diesen Luxus nachdrücklich bestanden. Die junge Frau kramte in ihrer linken Hosentasche und zog zwei runzlige Gummihandschuhe hervor, die sie sich etwas umständlich überstülpte, während die anderen beiden ihr dabei geduldig zusahen. Sie hatten zumindest den Großteil der sonderbaren kleinen Eigenheiten der Gruppenmitglieder schon im Vorfeld abgeklärt, bevor sie sich zu diesem Projekt entschlossen hatten. Ohne die geringste Absprache zusammen zu ziehen wenn man sich erst ein paar Tage kannte, hätte mit Sicherheit im vollkommenen Chaos geendet. Abigail hatte von Anfang an keinen Hehl aus ihrem schon leicht ins Krankhafte gehenden Reinlichkeitszwang gemacht und für Yuri und Harry stellte dieser Tick kein Problem dar. Mit jemandem zusammenzuleben der permanent auf Sauberkeit achtete, konnte eventuell mehr Vor- als Nachteile haben. Als Abigail schließlich begann mit einer kleinen Sprühflasche voll Desinfektionsmittel und einer mitgenommenen Serviette des Diners, bei dem sie zuvor noch essen gewesen waren, den Türknauf der Eingangstüre zu wienern, sahen sich die beiden Männer jedoch für einen Moment lang gegenseitig fragend an.
„Nicht zu lange schrubben, sonst geht Farbe ab“, sagte Yuri nach einiger Zeit mit einem Augenzwinkern gen Abigail, als ihm die ersten Regentropfen auf die Glatze fielen. Die sah ihn daraufhin mit einem leicht ertappten Blick an und ließ sofort von ihrem Werk ab. Harry schaute nach oben zum roten Abendhimmel und sah, wie sich finstere Wolken über die Stadt schoben.
„Immerhin haben wir es noch vor Einbruch der Dunkelheit geschafft“, seufzte er erleichtert und fischte den Schlüssel aus seiner Manteltasche, den ihnen der Vermieter gestern überlassen hatte. Dann nickte er Abigail lächelnd zu, sperrte die Eingangstüre auf und ging voran ins Treppenhaus. Ja, es stimmte. Sie hatten den Mietvertrag unterschrieben, bevor sie die Wohnung überhaupt zu Gesicht bekommen hatten. Das war hier in dieser Stadt allerdings nichts Ungewöhnliches. Sie kannten ihr Budget genau und konnten sich ungefähr vorstellen, was sie in dieser Preisklasse zu erwarten hatten. Ob sie jetzt zwanzig oder dreißig Schaben erschlagen mussten bevor sie ruhig schlafen konnten, machte keinen großen Unterschied mehr.
„Erster Stock?“ fragte Abigail, die Harry sofort folgte. Anscheinend legte sie keinen gesteigerten Wert darauf, auch nur einen Moment länger als nötig bei Einbruch der Dunkelheit unbewaffnet auf dieser Straße zu stehen. In einiger Entfernung sammelten sich tatsächlich schon ein paar wenig vertrauenserweckende Gestalten und unterhielten sich mit einem leicht aggressiven Ton.
„Erster Stock“, nickte Harry bestätigend, hob seinen Koffer an und machte sich über die uralte knarzende Holztreppe auf den Weg nach oben. Yuri folgte ihnen wortlos und sah sich dabei prüfend um. Man hätte meinen können er erwartete einen Hinterhalt, denn er stellte kurz einen der beiden Koffer ab, um die Pistole zurechtzurücken, die er hinten in seiner Hose unter der Jacke stecken hatte. Es roch etwas muffig, ansonsten machte das Treppenhaus jedoch einen besenreinen Eindruck. Als sie an der ersten Türe des Stockwerks angekommen waren, suchten sie nach einem Namensschild, konnten jedoch keines finden. Als Harry bereits den Türschlüssel in Richtung Schloss führte um auszutesten ob er passen würde, öffnete sich die Türe jedoch ruckartig einen spaltbreit, soweit es die Sicherungskette im Inneren zuließ. Ein mit Pickeln übersätes Gesicht erschien in dem Spalt. Es gehörte zu einem etwa vierzig Jahre alten Mann. Seine roten Haare standen in schmalzigen Büscheln kreuz und quer vom Kopf ab und er schaute die drei aus seinen dicken und verschmierten Brillengläsern an.
„W-w-w-was w-w-wollt ihr h-h-hier?“, fragte er aufgeregt stotternd. Abigail bemühte sich an ihm vorbei einen Blick in seine Wohnung erhaschen zu können. Natürlich konnte sie nicht viel erkennen aber dem Blitzen und Blinken nach zu urteilen, standen anscheinend eine Vielzahl an technischen Geräten herum.
„Wir sind neue Mieter, suchen unsere Wohnung“, erklärte Yuri knapp und zuckte dabei mit seinen ausgeprägten Brustmuskeln.
„Sch… sch… scha… schad… scheiße“, erwiderte der kauzige erscheinende Mann und sah zu dem großen Russen hoch. „D-d-das heißt i-i-ihr lief-fert n-n-icht meinen n-n-neuen CB-Funk? Na g-g-gut. D-die W-w-w-ohnung nebenan ist f-f-f-frei gew-worden. W-wie h-h-heißt ihr denn?“ Die drei stellten sich ihm zögerlich mit ihren Vornamen vor, um nicht zu viel Preis zu geben. Immerhin mussten sie mit dieser neugewonnenen Information zumindest nicht an jeder Türe klingeln, denn so wie es aussah, hatte hier niemand auf dem Stockwerk ein Namensschild angebracht.
„Wie sein dein Name?“, fragte Yuri mit ausdruckslosem Gesicht und einer leicht verhörartig wirkenden Intonation in seiner Stimme.
„I-i-ich bin Bobo. Ja, Bobo h-h-heiße ich, M-m-mann“, druckste der Kauz hervor. Man merkte deutlich, dass er das Sprechen mit Leuten von Angesicht zu Angesicht nicht gewohnt war. Höchstwahrscheinlich hatte er seine Wohnung schon sehr lange Zeit nicht mehr verlassen.
„Schön dich kennenzulernen Bobo“, erwiderte Harry betont freundlich. „Vielleicht könntest du uns noch sagen, wo das zugehörige Kellerabteil…“, begann er seine Frage, als er jedoch von seinem Gegenüber unterbrochen wurde.
„Nein!“, schrie dieser mit einem Mal. „Bobo m-m-muss jetzt Bubu!“ Dann knallte er ihnen die Türe mit einem ordentlichen Schwung vor der Nase zu und sie hörten ihn wie irre in der Wohnung lachen. Dem Lachen folgte ein lauter Furz und dann ein Schrei.
„Wir werden gute Nachbarn“, bemerkte Yuri trocken.
„Nicht darüber nachdenken, einfach nicht darüber nachdenken“, sagte Harry beschwichtigend zu Abigail, die wieder ihren starren und ekelerfüllten Ausdruck im Gesicht hatte. „Hier drüben“, sprach er ruhig und schob die sie sanft in die Richtung der nächsten Wohnungstüre, noch bevor sie etwas sagen konnte. Dann sperrte er schnell auf und die drei betraten ihr neues Heim. Die Wohnung war sehr klein aber immerhin möbliert. Der Eingangsbereich ging direkt in das Wohnzimmer über. Von dort aus führte eine Türe ins Bad, eine in die Küche und eine ins Schlafzimmer. Die Möbel und der Boden waren deutlich abgewohnt und die Räumlichkeiten waren ärmlich, aber auch damit schienen sie Glück zu haben. Es rannte ihnen kein Ungeziefer entgegen und mit den ein oder anderen Rückständen des Vormieters würden sie schon fertig werden. Immerhin gab es ein eigenes Telefon mit Wählscheibe und einen Anschluss zum Teletextinternet, dessen Buchse funktionsfähig aussah. Abigail machte sich gleich daran, in der Küche nach Putzmaterialien zu suchen und wurde tatsächlich fündig.
„Ich fange sofort im Schlafzimmer an. Das ist das Wichtigste, wenn wir uns später aufs Ohr hauen werden“, erklärte sie und stapfte mit einem vollen Eimer und einem Schrubber bewaffnet aus der Küche.
„Wir gleich helfen“, meinte Yuri, der die Koffer im Wohnzimmer abstellte.
„Auf keinen Fall!“, erwiderte Abigail leicht erschreckt. „Das muss gründlich gemacht werden. Gründlich…“, grummelte sie und verschwand im Schlafzimmer. Eine Minute später hörten die Männer ihre Stimme. „Äh… Jungs… kommt ihr mal?“
Harry und Yuri betraten das Schlafzimmer und sahen Abigail fragend an. Die deutete auf den Boden, auf dem zwei Doppelmatratzen lagen. Ein Bett gab es nicht. Yuri beugte sich hinunter und prüfte eine der Matratzen, indem er mit zwei Fingern tief hineindrückte.
„Sehr gut Qualität, sehr saugfähig. Hält mindestens sieben Liter Schweiß und Urin ohne zu laufen aus“, erklärte er dann mit einem fachkundigen Nicken. Abigail starrte ihn daraufhin mit großen Augen an, während sich ihre Hände um den Schrubberstiel krampften.
„Ihr beide teilt euch eine und ich schlafe auf der anderen, so viel ist schon mal sicher“, presste sie mit einem leichten Zittern in der Stimme gen Harry hervor und begann dann ansatzlos den Boden zu wischen, während die Männer langsam rückwärts das Zimmer verließen.
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