Elysium Roman 1 – Kapitel 4: Der Auftrag
January 20, 2023
Es war früher Nachmittag. Bisher war es so heiß gewesen, dass die vier es vorgezogen hatten, die Wohnung nicht zu verlassen. „Siebenundzwanzig… achtundzwanzig… neunundzwanzig…“, schnaufte Yuri und spannte die Muskeln an. Die Wohnung war klein und der Platz dementsprechend knapp. An eine Mitgliedschaft in einem nahegelegenen Fitnesstudio war schon alleine aus Kostengründen nicht zu denken, also musste man sich etwas einfallen lassen um nicht vollkommen einzurosten. So kam es, dass Abigail im Schneidersitz auf Yuris Rücken saß und dabei ein Buch über Programmiersprachen las, während er im Wohnzimmer Liegestützen machte. Ihre zierliche Statur machte sie zum idealen zusätzlichen Trainingsgewicht für den Hünen, dessen pralle Muskeln sich rhythmisch auf und ab bewegten. Diese wiegenden Bewegungen hatten jedoch eine leicht einschläfernde Wirkung auf Abigail und sie musste sich schon konzentrieren, um bei dem schwierigen Text auch wirklich bei der Sache zu bleiben. Am liebsten hätte sie einfach die Augen geschlossen und ein wenig gedöst, hielt sich aber dennoch tapfer wach. Ganz im Gegensatz zu Ralph, der bereits auf der Couch eingeschlafen war und mit offenem Mund schnarchte. Plötzlich klingelte das Telefon und Harry kam mit schnellem Schritt aus der Küche herangeeilt.
„Wat, wie, wo bin ick?“, schmatzte Ralph, der von dem lauten Geräusch aufgewacht war und sich nun schwerfällig aufzurichten versuchte.
„Ich geh’ schon“, meinte Harry und nahm den Hörer ab. Eine tiefe Stimme erklang am anderen Ende, nachdem Harry seinen Telefonbegrüßungstext aufgesagt hatte. So viel zumindest konnten Ralph, Yuri und Abigail hören. „Ja genau, ja, wo genau? Im Nordviertel? Ja, ich notiere die Adresse…“, bestätigte Harry und beschrieb den Notizblock, den er für alle Fälle neben dem Telefon deponiert hatte. „Und wann? Klar, etwa anderthalb Stunden. In Ordnung, wir sind unterwegs.“ Dann legte er auf. „Leute, scheint so als bekommen wir noch vor dem Abendessen unseren ersten Auftrag! Macht euch bereit, wir fahren ins Nordviertel und treffen dort einen Mann in einer verlassenen Wohnung. Er wollte am Telefon nicht sagen worum es sich genau bei dieser Angelegenheit handelt, will persönlich mit uns sprechen“, erklärte er den anderen. Die sahen ihn überrascht an und erhoben sich sofort.
„Endlich geht los mal was“, sagte Yuri, während Abigail vorsichtig von seinem Rücken herunter kletterte.
„Das mit dem Branchenbuch war wirklich keine schlechte Idee. Zum Glück ist mir noch eingefallen, dass die Papierausgabe nur einmal jährlich erscheint…“, grinste Abigail, die sich diebisch darüber freute, dass es ihr gelungen war sich auf den Server der Branchenseiten im Teletextinternet zu hacken und dort einen Eintrag für TRAP zu hinterlassen. Harry grunzte daraufhin nur, während er mit Rucksack und Schwert bestückt wieder aus dem Schlafzimmer kam. Ein paar Minuten später saßen sie alle zusammen im Auto, Ralph fuhr los und zwar überbetont gewissenhaft und vorsichtig, nachdem Harry ihm die Zieladresse gegeben hatte. Anscheinend war es ihm mit dem neuen Job wirklich ernst und er wollte wohl nicht gleich nach der ersten Fahrt wieder gefeuert werden. Zum Glück kannte er sich sehr gut in der Stadt aus, besonders in den schlimmeren Ecken. Nach etwas mehr als einer Stunde kamen sie bei einem für das Nordviertel typischen Plattenbau an. Die bröckelnde Fassade war mit Graffiti beschmiert, es dampfte bei dieser Wärme ein unangenehmer Geruch aus den umliegenden Kanaldeckeln und in die Kakophonie des Verkehrs mischten sich Rufe wütender Passanten und Hundegebell. Als Ralph den Wagen geparkt hatte, flog unweit vor ihnen ein Radio durch eine geschlossene Fensterscheibe und krachte auf den Bürgersteig. Während Abigail vor Schreck zusammenzuckte, grinste Ralph nur.
„Allet wie immer hier“, merkte er an, während die anderen aus dem Auto stiegen.
„Du warten, lassen dich nicht ansprechen von böse fremde Leute“, nickte Yuri zu Ralph, der daraufhin lachte und die Waffe unter seiner Jacke tätschelte. „Jeht klar“, antwortete er und zog einen Bleistift und ein abgegriffenes Kreuzworträtselheft aus dem Handschuhfach, das eine Menge Bilder mit hübschen Pin-Up-Girls enthielt.
„Welches Stockwerk diesmal?“, fragte Abigail gen Harry.
„Neuntes“, antwortete er. „Und selbst wenn die hier einen Aufzug haben, ich werde die Treppe benutzen…“ Dann stapfte er voran auf die Eingangstüre zu und die anderen folgten ihm. Gesagt, getan, Stockwerk für Stockwerk ging es hinauf, vorbei an unzähligen Wohnungstüren hinter denen sich wohl Geschichten abspielten, die kein Mensch wirklich erzählt bekommen wollte.
„Sonderbar, dass er uns ausgerechnet in dieser Bruchbude treffen möchte“, merkte Abigail an, als sie das neunte Stockwerk erreicht hatten.
„Tarnung“, antwortete Harry und zuckte mit den Schultern. Dann ergriff er den Knauf der dritten Türe von links und drehte ihn. Es war nicht abgesperrt, genau wie der Mann am Telefon angekündigt hatte. Zusammen betraten sie diese heruntergekommene Wohnung. Auf dem Boden lagen leere Bierdosen, verschiedene Kleidungsstücke und alte Zeitschriften herum. Ein paar Mäuse kletterten am Duschvorhang im Bad auf und ab, was man vom Eingangsbereich bereits sehen konnte. Yuri griff zu seiner Pistole, die er wie üblich hinten in der Hose stecken hatte und sah sich mit prüfendem Blick um, während Abigail zwei Gummihandschuhe aus ihrer Tasche hervorholte und anzog. Man sah ihr an, wie sehr sie sich zusammennehmen musste.
„Hier drüben, kommen Sie ruhig näher“, erklang eine tiefe Stimme aus dem Wohnzimmer. Harry nickte seinen Gefährten zu und ging voran. Auf einem staubigen braunen Ledersessel saß ein gut gekleideter Herr in einem schwarzen Anzug. Außerdem trug er einen schwarzen Hut mit breiter Krempe, den er tief ins Gesicht gezogen hatte, sodass man seine Augen nicht sehen konnte. In der Hand hielt er eine qualmende Zigarette, von der er genüsslich einen Zug nahm. Die Jalousien waren alle um etwa drei Viertel heruntergelassen worden und ließen nicht sehr viel Licht herein. Die Wärme des Tages verstärkte den Dunst dieser Räumlichkeiten auf unangenehme Art und Weise. Was man jedoch trotz des wenigen Lichts erkennen konnte war, dass der Mann auf einem Hocker neben sich ein großes Glas mit einem eingelegten Tintenfisch stehen hatte.
„Sieh nur, sie sind endlich da“, sprach er verschwörerisch zu dem Tintenfisch, als die drei das Zimmer betraten. Die TRAP-Mannschaft sah den sonderbaren Mann daraufhin irritiert an.
„Der hat doch jetzt nicht im Ernst zu dem Tintenfisch gesprochen?“ wisperte Abigail zu Harry. Er presste nur die Lippen aufeinander und antwortete nicht.
„Setzen Sie sich doch bitte, machen Sie es sich bequem“, sprach der Mann im Anzug und machte eine einladende Geste auf das große Sofa, das schräg gegenüber stand. Aus seinen Polstern ragte etwa in der Mitte eine rostige Feder durch die morschen Sitzkissen heraus.
„Lieber stehen“, erwiderte Yuri und fixierte den Gastgeber mit ruhigem Blick, ohne jedoch die rechte Hand von der Hüfte zu nehmen, um sie in der Nähe der Pistole behalten zu können.
„Ganz wie Sie meinen“, sagte der Mann und grinste schmal. „Sie stehen lieber, hast du das gehört?“ sprach er leise zu dem Oktopus. Abigail räusperte sich nervös und Harry fuhr sich mit einer überlegenden Geste durch die Haare.
„Also, hier sind wir. Sie wollten uns die Details Ihres Auftrags gerne persönlich darlegen…“, begann Harry schließlich um die Verhandlung zu eröffnen.
„Aber sicher“, antwortete der Mann. „Um ehrlich zu sein habe ich noch nie vorher von Ihrer Agentur gehört. Das ist gut, sehr gut sogar. Nicht wahr?“ Die rhetorische Frage galt einmal mehr dem eingelegten Meerestier. Dann nahm er erneut einen Zug von seiner Zigarette. Abigail hätte schwören können, dass sich einer der Arme des Oktopus gerade eben ein kleines Stückchen bewegt hatte. Wahrscheinlich war es nur eine optische Täuschung gewesen, ganz sicher war sie sich jedoch nicht.
„Nun, für diesen Auftrag ist es wichtig, dass wir unbekannte Gesichter engagieren. Ich will gleich zur Sache kommen. Ich befinde mich selbst nur in einer Vermittlerrolle für ein Unternehmen namens CROWTECH. Dabei handelt es sich um ein Entwicklerteam für Industriefertigungsroboter. Die Leute haben einen neuen Prototypen für die Autoindustrie gebaut und dafür irgendwelche teuren und modernen Bauteile verwendet. Er bedeutet dementsprechend einen großen technologischen Entwicklungssprung. Er ist vielseitig und kann für weitaus komplexere Aufgaben eingesetzt werden, als die normalen Bandroboter, welche meistens nur aus einem einzigen großen Arm bestehen und Bauteile anschrauben. Wie sie sich vorstellen können, ist das Ding auch äußerst teuer. Und jetzt kommen wir zum eigentlichen Problem. Irgendwie hat ein japanisches Konkurrenzunternehmen hier in der Stadt Wind davon bekommen – Industriespionage ist nichts Ungewöhnliches wie sie sicher wissen. Die Japaner haben eine Gruppe von Runnern angeheuert und das Ding stehlen lassen. So viel ist zumindest durch bisherige Nachforschungen, wenn man das so nennen will, bereits bekannt geworden. Man konnte einen der Runner bei dem Einbruch festsetzen und nach einer kleinen, etwas unangenehmen Spezialbehandlung hat er den Namen >Taiyō Electrics< ausgespuckt. Übrigens wäre es gut, wenn sie sich auf einen überaus gefährlichen Auftrag vorbereiten würden. Die Runner haben bei dem Einbruch mehrere Leute getötet, dieses Unternehmen scheut nicht davor zurück, maximale Gewalt anzuwenden. Der Name des Prototyps lautet >Yanny<. CROWTECH fand es wohl unterhaltsamer ihm einen echten Namen anstatt einer Seriennummer zu geben. Eine Unisexbezeichnung für diesen Metallhaufen. Allerdings hat dieser Yanny selbst einen Fehler in der Programmierung und müsste von CROWTECH ohnehin neu aufgesetzt werden. Er hat sozusagen ein paar Schrauben locker!“ Dann lachte der Mann laut über seinen eigenen Witz. „Hast du verstanden, ein paar Schrauben locker?“ gurgelte er zum Oktopus und klopfte sich dabei auf den Oberschenkel. Abigail sah zu Harry und Yuri und tippte sich mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf die Schläfe, die anderen beiden nickten daraufhin. Als der Mann ausgelacht hatte, wurde er sofort wieder ernst und fuhr fort. „Ist ja auch kein Wunder wenn Sie mich fragen. Neue Technologie steckt immer voller Fehler und ist nur schwer zu beherrschen. Wie dem auch sei: der Auftrag lautet, bringen Sie den Prototypen von Taiyō Electrics zurück und zwar zu mir. Wie Sie das genau machen, ist mir einerlei. Ich werde ihn dann zu CROWTECH schaffen.“
„Was spring dabei für uns raus?“, kam Harry ohne Umschweife auf den Punkt. Der Mann beugte sich vor und streichelte zärtlich das Glas, in dem sein groteskes Haustier schwamm.
„Sie sind… eine unbekannte kleine Agentur…“, begann er und Harry konnte sich sofort denken, worauf diese Aussage hinauslief. Er würde sie im Preis drücken wollen und ihnen blieb kein großer Verhandlungsspielraum aufgrund ihrer derzeitigen finanziellen Situation. Im Kopf begann er schon zu rechnen, um wie viel sie in der Summe heruntergehen konnten, wie billig sie sich verkaufen würden müssen.
„… allerdings ist CROWTECH der Prototyp einiges wert. Ich bin also befugt, ihnen im Falle eines Erfolgs 35.000,00 $ für Ihre Dienste anbieten zu können. 3.000,00 $ gibt es als Vorschuss… und lassen Sie sich nicht einfallen, mit dem Geld durchzubrennen. So etwas endet in aller Regel sehr unschön für alle Beteiligten“, fuhr der Mann mit einer geschäftsmäßigen Stimmlage fort. Die drei mussten sich beherrschen, um ihre Verwunderung zu verbergen und so gut es ging ein Pokerface beizubehalten. Die Summe war bei weitem mehr als sie erwartet hatten. Für eine Gruppe Neulinge wäre in diesem Geschäft bereits 2.500,00 $ pro Kopf eine annehmbare Belohnung gewesen.
„Gut, wir sind einverstanden“, erwiderte Harry nach einem Moment des Zögerns, um nicht all zu bedürftig zu wirken. „Schätze wir müssen selbst rausfinden, wo Taiyō Electrics den Prototypen versteckt hat?“
„So ist es“, nickte der Mann, zog wieder an seiner Zigarette und blies den Rauch in einem dünnen Strahl aus seinem Mund. Daraufhin deutete Abigail ihren Kameraden mit einer Geste an, dass sie guter Hoffnung war diese Information irgendwie beschaffen zu können.
„Wir schon fast unterwegs sind“, sagte Yuri. „Wie wir uns melden können bei ihnen?“ Der Mann zog einen kleinen Notizblock und einen Kugelschreiber aus seiner Anzugtasche und notierte eine Telefonnummer darauf. Dann reichte er Yuri den Zettel.
„Das ist meine Mobilnummer“, nickte er. „Rufen Sie mich an, sobald Sie Yanny haben. Dann treffen wir uns wieder genau hier.“ Die drei bestätigten und machten sich dann langsam auf den Weg hinaus aus der Wohnung. Ein Mobiltelefon würden sie sich auch kaufen müssen und von der Anzahlung sollte dies nun möglich sein. Diese modernen Geräte waren mittlerweile nur noch so groß wie ein halber Toaster und die ausziehbaren Antennen auf eine komfortable Länge von etwa 30 cm geschrumpft. Perfekt also, um im Einsatz ein echtes Telefon mit dabei zu haben.
„Also ich will auf jeden Fall auch eine Waffe… wie wäre es mit einer Pistole? Da wird es bestimmt auch leichtere und kleine Modelle geben, nicht wahr? Ihr könnt mich doch sicher beraten Jungs? Außerdem brauchen wir kugelsichere Westen, Helme und äh… Sprengstoff? Wie wäre es mit Handgranaten? Plastiksprengstoff? Rauchbomben? Dietriche? Ich will das komplette Programm! Und außerdem…“ Seit sie die Wohnung verlassen hatten, quasselte Abigail aufgeregt und ohne Unterlass. Yuri und Harry wussten nicht genau ob es an der großzügigen Vorauszahlung oder an der Tatsache lag, dass sie jetzt tatsächlich ein konkretes Ziel in Form eines echten Auftrags vor sich hatten. Immerhin schien sie nun einen etwas gelösteren Eindruck zu machen. Ihre Augen leuchteten geradezu, als sie über ihre Ausrüstungspläne erzählte und dabei wild mit den Händen gestikulierte. Ihr Monolog wurde allerdings jäh unterbrochen, als sie im dritten Stockwerk angekommen waren. Hinter einer der Wohnungstüren begann eine Frau ängstlich zu schreien, es krachte mehrmals, dann schrie ein Mann. Wenn sie diese Geräusche richtig gedeutet hatten, wurde in der Wohnung mit Stühlen oder Ähnlichem geworfen. Es war deutlich zu hören, dass sich diese Frau in Bedrängnis befand. Die drei blieben stehen und lauschten einen Moment. Noch ein lautes Krachen und das Splittern von Holz war zu vernehmen.
„Jungs… wir müssen ihr helfen… wir können nicht einfach so weitergehen und die Polizei kommt nicht freiwillig in dieses Viertel…!“, meinte Abigail aufgeregt und deutete auf die Türe. „Schnell, wo ist die Klingel?“ Yuri betrachtete die Türe mit einem abschätzenden Blick. Dann nahm er Maß, holte aus und trat mit dem rechten Fuß mit voller Wucht knapp neben das Schloss. Es krachte ohrenbetäubend laut durchs Treppenhaus, als die Türe halb aus ihrer Verankerung gerissen wurde. Dann nahm er den Türknauf mit beiden Händen, riss ihn zusammen mit dem Schloss mit einem Ruck heraus und ließ das Teil hinter sich fallen. Mit der linken Hand schob er die zerstörten Reste auf und trat schnellen Schrittes in die Wohnung ein.
„Ding-dong“, sagte er mit ausdruckslosem Gesicht, während er auf das Zimmer zuging, aus dem das Wimmern der Frau drang. Harry sah beeindruckt auf Yuris Werk der Vernichtung und dann kurz zu Abigail.
„Ähm… wow…“, kam es überrascht aus ihm hervor. Er wusste, dass ihr Kamerad über einiges an Körperkraft verfügte, hatte diese Reaktion jedoch nicht erwartet. Dann nickte er und folgte Yuri. Auch Abigail eilte hinterher. Der stämmige Riese bahnte sich seinen Weg durch allerlei Scherben von zerbrochenem Geschirr. Der Kampf musste hier schon eine Weile im Gange sein. Ein paar Sekunden später war Yuri im Schlafzimmer angekommen. Die Frau, die ganz offensichtlich geschrien hatte, lag am Boden. Was man auf den ersten Blick sehen konnte war, dass sie bereits einige blaue Flecken und leichtere Verletzungen davongetragen hatte. Ein Mann in zerrissener Kleidung stand vor ihr und war gerade dabei, mit der Hälfte eines zerbrochenen Stuhls auf sie einzuschlagen. Als er Yuri hörte, drehte er sich zu ihm um und sah ihn überrascht an. Dann brüllte er jedoch mit zornesrotem Gesicht: „Hey du Arschloch, was willst du in meiner Wohnung?! Verschwinde sofort oder ich mache Hackfleisch aus dir!“ Yuri dachte überhaupt nicht daran und marschierte unbeeindruckt weiter auf den Mann zu. Als dieser dann mit dem halben Stuhl ausholte, um ihn auf den Eindringling zu schlagen, machte Yuri einen größeren Satz in den Mann hinein um die Distanz zu ihm so weit zu verkürzen, sodass dieser seinen Schwung nicht mehr vollenden konnte. Der Hüne packte ihn mit der linken Hand an den Haaren und begann, den Wüstling mit furchtbaren Hammerschlägen direkt ins Gesicht einzudecken. Schon der erste Treffer brach ihm die Nase und erst nach dem vierten ließ er den Stuhl aus seinen Händen gleiten. Die Frau am Boden starrte ungläubig auf diese Szene. Offensichtlich hatte sie nicht damit gerechnet, dass ihr wirklich jemand zu Hilfe kommen würde. Abigail und Harry hatten nun ebenfalls das Schlafzimmer erreicht. Die Programmiererin eilte sofort zu der Frau und versuchte ihr aufzuhelfen, während Harry ein paar Schritte zurück machte und vom Gang aus die Wohnungstüre im Auge behielt. Er wollte ausschließen, dass der Mann unerwartete Verstärkung bekam. Yuri war ohnehin nicht mehr in seiner Rage zu stoppen. Er packte den mittlerweile Regungslosen, der durch seine mächtigen Schläge bewusstlos geworden war und warf ihn quer durch das Schlafzimmer direkt mit dem Kopf nach vorne in einen geschlossenen Kleiderschrank. Der Mann durchschlug die relativ massive Türe des Schranks und blieb bis zur Hüfte ihn ihm stecken, während die Beine noch herausragten. Es bestand nicht die geringste Chance, dass er diesen Aufprall überlebt haben konnte. Harry kam wieder ins Zimmer als er sich davon überzeugt hatte, dass nicht noch ein paar Kollegen des Mannes auftauchen würden. Er sah zuerst auf Yuri, der sich die blutige rechte Hand an seiner Hose abwischte und dann auf die beiden Beine, die aus dem Kleiderschrank ragten.
„Was…?“, begann er und zeigte auf den Schrank.
„Mann suchen Anzug für eigene Beerdigung“, erklärte Yuri knapp und stapfte achselzuckend hinaus in den Flur, um das Badezimmer zu suchen. Harry nickte und ging dann zu Abigail, die der Frau inzwischen wieder auf die Beine geholfen hatte. Sie stand immer noch unter Schock, schien aber trotzdem sichtlich erleichtert. Ein kurzes Gespräch ergab, dass es sich bei dem Mann um ihren neuen Lebensgefährten handelte, der sich aber schnell als cholerisch und gewalttätig herausgestellt hatte. Hätten die drei nicht so schnell reagiert, wäre es schlimm für sie ausgegangen.
„Haben Sie vielen Dank. Ich heiße übrigens Karen…“, offenbarte die Frau zerknirscht. „Leider besitze ich nichts von wert, was ich ihnen als Belohnung für Ihre Hilfe schenken könnte. Es tut mir so leid. Sie retten mir das Leben und ich habe nicht einmal etwas Geld um mich erkenntlich zu zeigen…“, schniefte sie. Yuri kam mit gewaschenen Händen vom Badezimmer zurück.
„Gut riechen in Küche“, erklärte er.
„Oh… das? Ja, ich war eigentlich am Kochen. Da steht ein Topf mit Tomatensuppe am Herd… Ähm, möchten Sie vielleicht einen Teller?“, erwiderte Karen leise, während sie noch von Abigail notdürftig versorgt wurde.
„Ja“, antwortete Yuri. „Kämpfen macht hungrig.“
„Sie vielleicht auch?“, fragte Karen gen Abigail und Harry, die diese Einladung ebenfalls gerne annahmen. Kurze Zeit später saßen sie alle zusammen in der Küche, aßen die Tomatensuppe auf und unterhielten sich ein wenig. Dieses kleine Stück Normalität holte die Frau nach und nach aus ihrem furchtbaren Schock und sie begann sich zu erholen.
„Yuri schafft den Typen gleich noch aus der Wohnung und ich hänge ihnen eine der anderen Türen vorne ein“, sagte Harry, während er den letzten Rest der Suppe aus der Schüssel kratzte.
„Das ist wirklich sehr lieb von ihnen, haben Sie nochmal vielen Dank“, erwiderte die Frau. „Aber… uhm… wer… wer sind Sie eigentlich?“ Die drei sahen sich kurz an, dann lächelte Abigail der Frau zu. „Wir sind TRAP, die Agentur für besondere Fälle. Empfehlen Sie uns bitte gerne weiter.“
„Sie uns finden in Branchenbuch“, nickte Yuri und wischte sich den Mund ab. Dann stand er auf und stapfte Richtung Schlafzimmer um die Leiche zu holen.
„Ja wie jetzt, ist dat der Typ, der euch den Auftrag geben sollte?“, fragte Ralph erstaunt, als er aus dem Fenster sah und Yuri mit dem Toten, der ihm über die rechte Schulter hing auf den Agenturwagen zumarschierte.
„Nein, anderer Mann. Gab Zwischenfall“, erläuterte er wie beiläufig zu Ralph.
„Na ihr seid mir ja mal welche… Mann, Mann, Mann…“, der grinste und schüttelte den Kopf. „Wohin jetzt mit dem Knaben? Hmm… Ah, schau mal da vorne, da steht ein Müllcontainer.“ Er zeigte auf die andere Straßenseite und stieg aus dem Auto.
„Gut“, nickte Yuri und ging geradewegs auf den Container zu. Zum Glück kam gerade kein Auto und die wenigen Leute, die in dem Moment vorbeigingen, schienen keine größere Notiz von dieser Szene zu nehmen. Vermutlich kam dergleichen hier öfter vor. Als der Russe bei dem Container angekommen war, öffnete er den Deckel mit der linken Hand, wuchtete den Körper des Mannes hinein und ging wieder zurück zum Wagen.
„Sehr umweltbewusst“, sprach Abigail von hinten, nachdem sie die Aktion beobachtet hatte. Sie und Harry standen im Eingang des Hauses und kamen nun ebenfalls zu den anderen.
„Na ick weeß nicht. Im Jefängnis hatten wir für den Biomüll eijene Container“, bemerkte Ralph und lachte dann meckernd. „Wohin jetzt?“
„Erstmal zurück zum Hauptquartier“, sagte Abigail lächelnd. „Müssen erst ein paar Nachforschungen anstellen, bevor es losgehen kann. Und natürlich müssen wir auch Ausrüstung kaufen fahren. Wir erklären dir alles ausführlich auf dem Heimweg.“
„Oho, >Hauptquartier< heißt die Butze jetzt plötzlich“, grinste Ralph breit. Dann öffnete er eine Autotüre für Abigail und deutete eine Verbeugung an. „Steigt ein Madame, wir sind schon so gut wie da.“
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