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Elysium Roman 1 – Kapitel 7: Im Inneren


Er konnte von seiner Position aus den Wagen mit der großen Wurst aus Plastik auf dem Dach sehen, der gerade um die Ecke gebogen war. Sein Geist konnte nicht verarbeiten, was genau er da mit seinen schwach leuchtenden Augen beobachtete. Zusammengekauert saß er in der Abflussröhre unter dem Bordstein und hielt sich mit seinen knöchernen Händen an einem Gitter fest, um nicht abzurutschen. Mit nackten Füßen stand er in der zähflüssigen Brühe. Der Gestank, der von diesem verdreckten Wassers ausging, störte ihn nicht. Er nahm ihn nicht mehr wahr. Seine Haut war kohlrabenschwarz, mit Schrunden und stellenweise kleinen Blasen überzogen. Nichts würde ihn dazu bewegen können, aus seinem Versteck hervor ins gleißende Sonnenlicht zu kriechen. Es war zu grell für ihn, schmerzte in seinen Augen. Er war ein Wesen der Dunkelheit, geboren fernab des Lichts der Sonne. Nur wann, das hatte er vergessen. Es machte keinen Unterschied mehr für ihn, ob ein Jahr verging oder zehn. Der Transporter hielt vor dem Tor an, vor dem die beiden Männer standen, die Waffen in ihren Händen hielten. Dann gaben sie Laute von sich. Auch aus dem Transporter kamen Laute. Er verstand sie nicht, konnte den Sinn der Worte nicht erfassen. Verstand den Zweck von Sprache nicht mehr. Allerdings begann er nun, Hunger zu verspüren. Dieser Hunger musste gestillt werden, es duldete keinen Aufschub. Er erhob sich, soweit es die niedrige Höhe seines Beobachtungspostens zuließ und kroch weiter die Röhre entlang, fort von der Öffnung am Bordsteinrand. Weiter vorne gab es einen breiteren Abstieg zum Abwassersystem, an dies konnte er sich noch erinnern. Er würde dort unten etwas Essbares finden, er würde nur lange genug suchen müssen. Etwas, das ihm nicht entkommen konnte. Und schnell war er, auch wenn man dies auf den ersten Blick nicht vermutet hätte. Viel schneller als alles andere, das hier unten lebte.

Ralph kurbelte das Fenster herunter. Neben ihm saß Abigail, die ihr unschuldigstes Lächeln aufgesetzt hatte. Zum Glück hatten sie noch ein paar Kittel und Papierhüte der Würstchen-Productions hinten im Transporter gefunden und diese gleich angezogen, bevor sie losgefahren waren. Ralphs Frisur wäre für einen Lebensmittellieferanten ein wenig zu auffällig gewesen.
„Na endlich lasst ihr euch auch mal blicken“, rief der Wachmann ihm zu, der auf der linken Torseite stand. „Ihr seid spät dran, das ist euch klar, oder nicht?“
„Ja tut uns leid, viel Verkehr heute“, erwiderte Ralph und winkte ihm zu. „Jetzt aber mal schnell dat Tor auf, die Hot Dogs warten schon auf euch!“ Der Wachmann stutzte einen Moment und rieb sich das Kinn.
„Wo ist denn Dave heute? Gestern hatte er sich noch mit einem >bis morgen< verabschiedet?“, fragte der Wachmann nach. Dann aber gab er seinem Kollegen ein Zeichen und dieser begann, einen größeren Schlüssel von seinem Gürtel zu lösen und das Tor aufzusperren. Anscheinend war die Freude auf das Mittagessen größer als sein aufkommendes Misstrauen. Sie hatten mehr Glück als Verstand. „Der ist heute früh im Bad ausgerutscht. Schlimme Sache, ist aber bald wieder fit. Wir sind zwar nur die Vertretung, aber unsere Würste sind genau so heiß“, erwiderte Ralph mit ruhiger Stimme. Daraufhin lachte der Wachmann kernig und sie zogen die beiden Torflügel auf, sodass der Transporter langsam hindurchfahren konnte. Abigail sah im Rückspiegel, dass das Tor sofort wieder hinter ihnen geschlossen wurde. „Wir sind drin“, stellte sie leise fest. „Ich glaube wir müssen hier rechts lang.“ Sie zeigte auf ein großes Schild mit der Aufschrift >Anlieferung<, anscheinend die einzige Beschriftung hier im Areal auf Englisch. Unter der Schrift befand sich ein Pfeil. Ralph folgte der Richtung und der Weg führte sie geradewegs zu einem Lagerbereich. Er wendete den Wagen und fuhr rückwärts an eine größere dicke Stahltüre, die von einem verfärbten dicken Holzkeil aufgehalten wurde. Dann klopfte er an die Rückwand des Führerhauses, um Harry und Yuri ein Zeichen zu geben, die sich im hinteren Teil des Wagens beim Essen versteckt hielten. Auch sie waren bereits mit der Kleidung der Catering-Firma ausgestattet, um nicht sofort als unrechtmäßige Eindringlinge erkannt zu werden.
„Wir sind da“, sagte er mit gedämpfter Stimme. Ein kurzes Klopfen kam als Antwort zurück. Abigail und Ralph stiegen aus, um die Hintertüre des Transporters zu öffnen. Dann tauchte plötzlich eine Frau in einem schicken Kostüm in der großen offenen Türe auf. Die überaus attraktive Japanerin sah eigentlich so aus, als würde sie gleich auf einen Gala-Empfang oder einen Modelltermin gehen und nicht hier hinten in einer Anlieferungszone auf den Catering-Service warten.
„Da sind Sie ja endlich!“, begrüßte sie die beiden mit einem freundlichen Lächeln. „Wir erwarten schon sehnlichst das köstliche Füllhorn Ihrer erlesenen Speisen!“, sprach sie grammatikalisch perfekt, allerdings mit einem leicht hörbaren Akzent, der ihre charmante Erscheinung jedoch noch weiter verstärkte.
„Wat?“, antwortete Ralph.
„Tut uns leid wegen der Verspätung, das wird ganz bestimmt nicht wieder vorkommen“, antwortete Abigail und lächelte die Dame mit großen Augen an. Dann fuhr sie sich mit der rechten Hand durch die Haare und nestelte ihren Arbeitskittel zurecht. Die Dame im Kostüm musterte sie freundlich. Ralph sah kurz zwischen den beiden hin und her, zuckte dann nur mit den Schultern und öffnete die Hintertüre. Harry und Yuri standen schon im Inneren bereit, jeder von ihnen hatte eine Steige mit verpacktem Essen in den Händen und ebenfalls einen dieser leicht entwürdigenden Papierhüte auf dem Kopf. Wie auf Knopfdruck marschierten sie hintereinander aus dem Wagen.
„Wenn ihr jetzt noch Spitzhacken dabei hättet, würdet ihr aussehen wie die Zwerge auf dem Weg in den Berg“, murmelte Ralph und kletterte dann seinerseits in den Wagen, um sich ebenfalls eine Palette zu schnappen.
„Guten Tag“, grüßte Harry auf Japanisch zu der Frau und bemerkte aus dem Augenwinkel eine Überwachungskamera, die auf den Anlieferungsbereich gerichtet war. Er musste dies im Hinterkopf behalten. „Wohin mit dem Essen? Wir sind ein neues Team und beliefern Sie heute zum ersten Mal, deswegen kennen wir uns hier noch nicht aus.“ Die Dame war deutlich überrascht, in ihrer eigenen Muttersprache angesprochen zu werden. Normalerweise hatte sie bei dieser Firma nur amerikanische Mitarbeiter gesehen. Sichtlich erfreut wies sie den Vieren dann den Weg zur Kantine.

Die Nachricht über das Eintreffen der Essenslieferung verbreitete sich unter der Belegschaft wie ein Lauffeuer und die Kantine war in kürzester Zeit bis auf den letzten Platz besetzt. Ralph schaufelte wie ein Wilder einen Teller nach dem nächsten voll und der Raum füllte sich mit Essensgeräuschen und Unterhaltungen, während die anderen drei TRAP-Mitglieder das ganze Essen aus dem Wagen so schnell wie möglich heranschafften. Als alle Paletten und Pakete im Bereich der Ausgabe gestapelt waren, nickten sie Ralph zu und zogen sich zurück. Jetzt durften sie keine Zeit verlieren. Zuerst schlugen sie den Weg zurück zum Transporter ein, nahmen aber dann eine andere Abzweigung und befanden sich nun in der Hauptproduktionshalle. Hier wurden hochkomplexe Maschinen und größere Werkzeuge für verschiedenste Einsatzfelder an den gut ausgestatteten Werkbänken hergestellt. Abigail konnte ein paar der Maschinen anhand ihres Aussehens einordnen, andere wiederum sagten ihr überhaupt nichts. Die japanische Beschriftung machte es für sie nicht leichter, sich überhaupt hier zurechtzufinden. Zum Glück konnte Harry ihr bei Bedarf schnell das Wichtigste übersetzen. Zumindest gab es hier in diesem Bereich keine Überwachungskameras, sonst wären sie in ernsthaften Schwierigkeiten gewesen.
„Also einen übergroßen Laser kann ich hier nicht finden. Und ein Roboter für eine industrielle Kfz-Fertigung kann ich auch nicht erkennen“, flüsterte sie den anderen zu.
„Verdammter Mist“, grunzte Yuri. „Sind wir vielleicht doch eingebrochen in falsche Niederlassung?“ Harry sah sich fieberhaft um. Die Halle war von ihrem Punkt aus trotz der vielen großen Geräte relativ gut einsehbar. Außerdem führte eine Treppe an der Seitenwand einen Stock nach oben zu einer Bürozeile. Harry kniff die Augen zusammen und versuchte, die Beschriftungen zu erkennen. Von diesen Büros aus hatte man mit Sicherheit einen guten Blick über den ganzen Produktionsbereich.
„Der erste Raum dort oben ist für den Vorarbeiter, bei dem Rest steht nur Verwaltung“, las er vor.
„Sollen wir da einbrechen?“, fragte Yuri.
„Bin mir nicht sicher, ob wir hierfür noch die Zeit haben“, sagte Abigail und schaute nervös auf ihre Uhr. „Wenn die Belegschaft eine Dreiviertelstunde Mittagspause hat, was ich einfach hoffe, dann bleiben uns noch… achtunddreissig Minuten?“
„Da drüben, schaut mal, da ist ein Aufzug“, meinte Harry plötzlich. Zuerst hatte er die Türe nur für eine Abstellkammer oder etwas ähnliches gehalten, weil kein Symbol oder eine Aufschrift angebracht war, die sie als Aufzug ausgewiesen hätte. Als die drei aber nun ein paar Schritte näher gekommen waren, hatte er einen kleinen Knopf in Form eines Pfeils nach unten entdeckt. Sie eilten dorthin und untersuchten diese Türe.
„Ein Aufzug? Aber da drüben ist doch Treppe?“, sagte Yuri und sah kurz zurück. Der Aufzug konnte keinesfalls nach oben, sondern nur nach unten führen.
„Ein Keller unter der Produktionshalle? Ein Keller ohne Treppeneingang, nur über einen Aufzug zu erreichen? Ist das nicht ein wenig riskant?“, fragte Abigail.
„Oder es gehört zum Konzept“, überlegte Harry und tippte auf einen länglichen Schlitz, der auf der Platte neben dem Pfeilknopf eingebaut war. „Wahrscheinlich muss man hier eine Chipkarte durchziehen, um den Aufzug überhaupt rufen zu können. Somit gibt es hier einen Bereich, der wohl nicht für alle Mitarbeiter gleichermaßen zugänglich ist. Die haben etwas zu verbergen und das sind verdammt gute Nachrichten für uns.“ Abigail sah sich die Platte an und entdeckte einen Port für einen Modularstecker. Eilig zog sie ihren Rucksack herunter und holte den Minilaptop und ein Telefonkabel hervor. Den Laptop verband sie mit der Aufzugplatte, setzte sich auf den Boden und begann, wild in die Tastatur zu hacken. Die anderen beiden starrten in Richtung Kantine. Wenn jetzt jemand kam, waren sie geliefert. Sie würden keinem Menschen jemals erklären können, warum sich die Würstchenlieferanten unbedingt an einem Sicherheitsaufzug zu schaffen machen mussten. Yuris Hand ging automatisch in Richtung der Pistole, die wie immer hinten in seiner Hose steckte. Eine Minute später öffnete sich die Aufzugtüre. Harry und Yuri atmeten hörbar aus vor Erleichterung.
„Ganz ehrlich, ich mache mir gleich in die Hosen…“, flüsterte Abigail schwitzend. Sie saß noch immer im Schneidersitz mit Laptop auf den Beinen auf dem Boden und schaute zu den anderen hoch.
„Hab doch gesagt, nicht so viel essen Joghurt“, flüsterte Yuri zurück, hob sie samt dem Computer hoch bevor sie protestieren konnte und trug sie in den Aufzug, der sich aufgrund seines größeren Innenraums als ein Lastenaufzug entpuppte, während Harry schnell das Kabel aus dem Steckplatz der Platte zog. Schon schloss sich die Türe wieder und der Aufzug fuhr langsam nach unten.

Sie hatten sich links und rechts von den Aufzugtüren an die Wand gepresst, um nicht sofort gesehen zu werden, sollte jemand direkt im unteren Bereich stehen. Langsam öffnete sich der Aufzug und Harry lugte um die Ecke. Einmal mehr hatten sie Glück, niemand war da. Er machte den anderen beiden ein Zeichen und sie traten in einen großen Raum ein, der sich vom Stil her deutlich von der Produktionshalle oben unterschied. Es sah fast aus wie in einem Empfangsbereich eines frisch errichteten, hypermodernen Krankenhauses. Der Boden war weiß, die Wände mit großen hellblauen Kacheln bedeckt. Indirektes blaues Licht kam zwischen ihnen hervor und tauchte den Raum in eine futuristische, fast schon unwirkliche Atmosphäre. In der Mitte stand ein kugelförmiger Projektor am Boden, der leise vor sich hinsummend das dreidimensionale orangefarbene Bild eines Schaltplans über sich in die Luft projizierte, welches sich um die eigene Achse drehte. Aus dem Raum führten Türen in drei verschiedene Himmelsrichtungen. Trotz der Anspannung und Vorsicht konnten sie nicht anders und starrten den Projektor und das Bild einige Momente lang an. Keiner von ihnen hatte etwas derartiges jemals zuvor gesehen. Dieses Ding schien wie aus einer anderen Welt zu stammen. Schließlich verschwamm das Bild und änderte seine Form, zeigte jetzt ein sich bewegendes Gelenk.
„Absolut faszinierend“, flüsterte Abigail und die anderen nickten.
„Gerade aus geht es in den Bereich >Level 1<…“, begann Harry zu übersetzen, als sich plötzlich die Türe an der Ostseite des Raumes öffnete. Yuri und Abigail zogen die Pistole und den Colt. Harry hingegen zog sein Schwert und lief sofort geistesgegenwärtig der Türe entgegen, um die Distanz zu denjenigen zu verkürzen, die von dort aus den Raum betreten wollten. Es waren zwei Wachleute in schwarzen Uniformen, die, wie auch die Torwachen draußen mit Maschinenpistolen und Sicherheitswesten ausgerüstet waren. Ihnen folgte eine große blonde Frau in einem weißen Kittel, auf dem ein Namensschild angebracht war. Als sie den heranstürmenden Harry und seine Kameraden bemerkten, rissen sie ihre Waffen hoch und die Frau begann zu schreien. Doch es war zu spät, Harry war nahe genug und drehte sich blitzschnell mit ausgestreckten Schwert um die eigene Achse. Der Kopf des Wachmanns zur linken der Frau löste sich mit einem unglaublich präzisen Schnitt von seinem Hals und landete ein paar Meter weiter mit einem klatschenden Geräusch auf dem Boden, während sein Körper leblos umfiel. Die Dame im Kittel beendete sofort ihr Geschrei und wurde kreidebleich. Der andere Wachmann geriet in Panik und schoss das ganze Magazin auf einmal leer, zog sein Gewehr nach rechts. Yuri schrie laut auf und ging auf die Knie während Abigail ihrerseits alle Kugeln ihres Colts auf den schießenden Wachmann abfeuerte, der einen Moment später durch einen eher zufälligen Kopfschuss von ihr tot zusammensackte. Abigail begann etwas zu zittern, aufgrund des enormen Schubs an Adrenalin, der durch ihren Körper schoss. Harry zögerte keinen Moment und packte die Frau, drückte sie gegen den Türrahmen und hielt ihr den Mund zu. Er sah zurück zu Yuri, der sich aufrappelte und dabei die rechte Schulter hielt. Eine der Kugeln der Maschinenpistole hatte ihn gestreift und dabei eine Fleischwunde verursacht. Glück im Unglück. „Gibt es hier einen Erste-Hilfe-Kasten?“, knurrte Harry zu der Frau und nahm langsam die Hand von ihrem Mund, damit sie antworten konnte. „Ja“, sagte sie und schien ihre Fassung sehr schnell wiederzufinden. „In Level 1 hängen welche in den Toiletten. Ich wäre ihnen übrigens sehr verbunden, wenn Sie mich nicht auch noch enthaupten würden, Sie grässlicher Barbar. Ich bin zu intelligent, talentiert und attraktiv, um jetzt schon zu sterben.“ Dann fuhr sie sich mit der Hand durch ihre blonde Mähne, legte die andere aufreizend in die Hüften und sah ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue offensiv an. „Sie recht hat, sein schon ziemlich scharf“, krächzte Yuri von hinten und hielt sich die Schulter, während Abigail versuchte, notdürftig seine Blutung mit dem abgerissenen Ärmel ihres Catering-Firma-Kittels zu stoppen. „Oh, vielen Dank“, bemerkte die Dame und dann zu Harry gewandt: „Sehen Sie? Ihr Verbrecherkollege hat Geschmack.“ Harry sah kurz zwischen Yuri und ihr hin und her und seufzte dann. „Also gut, ich werde Sie ausnahmsweise nicht enthaupten, Frau…“, er sah auf ihr Namensschild, „Frau Ingenieurin Dinner. Aber ich könnte es mir kurzfristig anders überlegen wenn Sie uns nicht sagen, wie wir in Level 1 hineinkommen.“ Um diesen Satz zu unterstreichen, erhob er sein Schwert, ließ die Klinge auf seiner Schulter ruhen und fixierte sie mit kaltem Blick. Die Frau gab ihre betont coole Bluffhaltung auf und schluckte. „Alles klar, also Sie brauchen eine Chipkarte. Der Bereich hier unten ist in zwei Sicherheitslevel abgeteilt“, erwiderte sie. „Gehe ich richtig in der Annahme, dass Sie eine solche Chipkarte besitzen?“, fragte Harry wie beiläufig und tippte dabei mit dem Zeigefinger auf seinen Schwertgriff. „Komme gerade aus der Umkleidekabine dort hinten“, sie deutete mit dem Daumen in den Raum, aus dem sie mit den Wachleuten gekommen war. „Mein Büro ist dort drüben. Da liegt auch meine Chipkarte. Sie… Sie werden mich doch jetzt nicht als Geisel nehmen und mitschleifen?“, fragte die Ingenieurin dann mit etwas schreckgeweiteten Augen. „Au ja!“, kam es wieder von Yuri und dann ertönte ein kleiner Schmerzensschrei, als Abigail ihn daraufhin mit dem Zeigefinger in die verwundete Schulter pikte. „Mal sehen…“, grunzte Harry. „Erst einmal her mit der Chipkarte!“. Er begann sie in Richtung ihres Büros vor sich herzuschieben und hielt demonstrativ sein Schwert bereit, um sie einzuschüchtern. „Nicht so grob, Sie Wüstling!“, schnaufte die Ingenieurin exaltiert, obwohl er sie nur mit der Handfläche am Rücken vor sich her drückte. Harry rollte mit den Augen. Als sie dann zu viert in ihrem Büro angekommen waren, ging ihr Griff zu einer Schublade an ihrem Schreibtisch. „Langsam!“, knurrte Abigail sie an und richtete den Colt auf den Kopf von Frau Dinner. „J-ja…, kein Stress“, beschwichtigte die und öffnete wie in Zeitlupe die Schublade. Harry sah ihr dabei über die Schulter. Es befand sich keine Waffe darin, stattdessen zog sie die angekündigte Chipkarte heraus. Sie hielt die Karte Abigail hin und die nahm sie an sich. „Sie drei sind wegen dem Prototypen hier, nicht wahr?“, fragte sie plötzlich direkt. Harry zögerte einen Moment. „Ja“, antwortete er dann ehrlich. Dinner lächelte und zeigte dabei ihre Zähne. „Sie wissen doch überhaupt nicht, womit Sie es hier wirklich zu tun haben, oder?“, fragte sie erneut und behielt ihr leicht süffisantes Grinsen bei. „Was meinen Sie damit?“, fragte Abigail und kaute ein wenig auf ihrer Unterlippe. „Was hat man euch drei Figuren eigentlich gesagt, sollt ihr hier stehlen?“, kam sofort wieder eine Gegenfrage. Dann setzte sich die Ingenieurin langsam in ihren Bürostuhl. „Stehlen ist gut, Ihr Unternehmen hat den Prototypen zuerst gestohlen. Wir bringen ihn nur zum rechtmäßigen Besitzer zurück“, erwiderte Harry. „Pah… CROWTECH… wenn mir das teuerste Filet, die besten Gewürze und der edelste Wein durch Zufall einfach so in die Hände fallen, kann auch ich problemlos ein fünf-Sterne-Menü zubereiten. Das ist dann keine Kunst mehr…“, sprach sie verächtlich. Die TRAP-Agenten sahen sich fragend an und wussten nicht, wie sie diese Antwort deuten sollten. Allerdings hatten sie ohnehin bereits zu viel kostbare Zeit verloren. Abigail überlegte. „Zur Seite“, blaffte sie dann zu der Ingenieurin und schob den Stuhl mitsamt der Frau vom Schreibtisch weg. Danach öffnete sie ihren Rucksack und holte ein paar Floppy-Disks hervor. Diese steckte sie eilig in das Laufwerk des Computers, der auf dem Schreibtisch stand und begann, so viele Daten wie möglich herunterzuladen. Frau Dinner wollte schon protestieren, da baute sich Yuri vor ihr auf und schüttelte wortlos mit dem Kopf, woraufhin sie mit einem zornigen Gesichtsausdruck die Arme vor sich verschränkte und stumm blieb. Abigail sicherte an Geheimakten, was nur irgendwie in der kurzen Zeit zu finden war, ganze fünf Disketten voll. „Fertig“, meldete sie schließlich. „Gut“, sagte Harry, holte mit seinem Schwert aus und durchtrennte mit einem einzigen Streich alle Kabel des Computers, sodass die Funken nur so sprühten. Yuri nickte daraufhin, nahm das Telefon mit der Hand des unverletzten Arms und riss das Kabel mit einem mächtigen Ruck aus der Wand. „Schlüssel“, sagte er mit Befehlston zu der Ingenieurin. „Sie wollen mich doch nicht etwa in meinem Büro einsperren! Ich werde verhungern, wenn man mich nicht schnell genug findet! Oh, ihr grausamen Verbrecher, habt ihr denn überhaupt kein Herz! Ich bin zu attraktiv um…“, begann sie zu schreien. „Joghurt“, sagte Yuri kühl gen Abigail. Die grummelte ein wenig, holte noch ein Glas ihres Erdbeerjoghurts aus ihrem Rucksack und stellte es auf den Schreibtisch. „So eine Scheiße…“, knurrte die Ingenieurin, holte den Schlüssel ihres Büros aus der Hosentasche und warf ihn auf Harry, der diesen geistesgegenwärtig knapp vor seinem Gesicht auffing. „Man wird Sie recht schnell finden, dessen bin ich sicher. Machen Sie sich keine Sorgen“, meinte er. Dann verließen sie ihr Büro und schlossen die Türe von außen ab. „Verdammt, ich habe keinen Löffel“, hörten sie die Frau dumpf aus dem Zimmer schreien. Harry seufzte. Gemeinsam gingen sie zurück zu der Türe mit der Level 1-Aufschrift und zogen die Chipkarte durch den nächsten Schlitz. Es funktionierte, die Türe öffnete sich. Sie schlichen weiter, an einigen Büros und einem Materiallager vorbei und kamen schließlich rechterhand an ein paar Toilettentüren. Eine kurze Untersuchung der Räumlichkeiten förderte einen Erste-Hilfe-Kasten zu Tage und Yuris Wunde konnte ordentlich versorgt werden. Er desinfizierte und verband sich selbst mit erstaunlicher Geschicklichkeit und erklärte seinen Kameraden kurz, dass er solche Sachen beim >Spezialmilitär< gelernt hatte, was die anderen beiden mit einem beeindruckten Nicken goutierten. Ein paar Mal mussten sie sich für eine kurze Zeit verstecken, um nicht weiteren Wachleuten direkt in die Arme zu laufen. Der Auftrag lautete schließlich nicht, so viel Blut wie möglich zu vergießen. Wenn sie selbst mit großer Brutalität vorgingen, könnte das irgendwann auf sie zurückfallen – sollten sie diesen Auftrag hier überleben. Wenn allerdings jemand die Ingenieurin in ihrem Büro fand, würden sie schnell ein größeres Problem haben. Noch war zumindest kein Alarm ausgelöst und sie bewegten sich langsam mithilfe der Chipkarte von Raum zu Raum, bis sie schließlich vor einer Türe mit der Aufschrift >Labor< standen.
„Hier muss es sein, wir sind am Ziel“, wisperte Abigail. Harry nickte, zog sein Katana und atmete tief durch. Auch Yuri zog erneut seine Pistole, diesmal mit der anderen Hand.
„Bereit?“, fragte Yuri.
„Gehen wir’s an“, bestätigte Harry, trat die Türe auf und stürmte in den Raum. Seine Kameraden folgten knapp hinter ihm.


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