Elysium Roman 2 – Kapitel 6: Jenseits des Hasses
March 24, 2023
Als Yuri durch den langen Gang schlenderte merkte er erst, wie betrunken er wirklich war. Glücklicherweise hatte sich der Innenraum hier nahezu geleert, denn fast alle Leute hatten sich in Richtung Ringkäfig begeben, um sich den bevorstehenden Kampf anzusehen. Niemand bemerkte, wie er zwischendurch immer wieder torkelte und sich an der Wand abstützen musste. Die Fahrbewegungen des Schiffes wirkten in diesem Zustand um ein Vielfaches verstärkt und mehr als einmal hatte er das Gefühl, der Boden würde unkontrolliert zu schwanken beginnen. In Wirklichkeit waren es jedoch nur seine Knie, die von dem vielen Wodka weich geworden waren. Das Beste war es wohl, er würde sich in den Außenbereich begeben um frische Luft zu schnappen. Wahrscheinlich war es auch eine gute Idee, sich noch etwas zu essen zu besorgen. Ein paar Schnittchen mehr würden den Alkohol in seinem Magen sicher aufsaugen können und ihm zu neuer Nüchternheit verhelfen. Während er so überlegte, drehte er sich einmal um die eigene Achse und sah sich um. Aus welcher Richtung war er gerade eben gekommen? Er wusste es nicht mehr. Erneut taumelte er und bekam – wie genau, dessen war er sich nicht sicher – eine edel gearbeitete, goldene Türklinke zu fassen. Er stolperte nach vorne, hielt sich an der Klinke fest und drückte sie ungewollt in seinem Fall herunter. Die Türe öffnete sich anstatt seinen Schwung zu bremsen und nach zwei langen Schritten fiel er wie ein umgesägter Baum auf den Dielenboden.
„Ah… was für eine Nacht, hoffentlich hat das niemand gesehen“, sprach er lallend auf Russisch und versuchte sogleich, sich wieder aufzurappeln.
„Um Himmels Willen, geht es Ihnen gut?“, sagte eine Frauenstimme zu ihm auf Amerikanisch. Er spürte, wie ihn zwei Arme in eine aufrechte Sitzposition stützten und sah in das Gesicht einer Dame, die ihrer weißen Uniform nach zu urteilen zur Schiffsbesatzung gehören musste. Erschrocken sah sie ihn an und stieß dann ein >Huch< aus, als sich ihr langer brünetter Pferdeschwanz zwischen ihrer beider Arme verfing und ihr Kopf dabei unsanft nach hinten gezogen wurde.
„Oh Verzeihung Sie mich“, lallte Yuri und versuchte ungeschickt, ihre Haare zu entwirren, was die Sache jedoch nicht besser machte.
„Brauchst du Hilfe, Lisa?“, fragte eine Stimme von weiter hinten.
„Wer sprechen?“, fragte Yuri und sah die ihn haltende Dame verwirrt an.
„Nein Cassy, ich denke das geht schon, der Herr ist nur etwas betrunken“, antwortete die Stewardess nach hinten und grinste. Der Nebel in Yuris Kopf lichtete sich etwas und er betrachtete die Dame eingehend. Immerhin hatte er durch den Wodka, der fast ausschließlich aus Wasser und Alkohol bestand, keine abschreckende Fahne und musste sich um Mundgeruch keine Sorgen machen. Sie war hübsch. Sogar über alle Maßen hübsch, wie er fand. Und das lag nicht an seinem Rausch, dessen war er sich sicher. Er entdeckte ein Namensschild auf ihrer Uniform. Die Stewardess bemerkte nun, dass er sie wortlos und scheinbar fasziniert musterte.
„Können Sie aufstehen?“, fragte sie, deren Arme langsam schwer wurden, da sein Oberkörper ein stattliches Gewicht hatte.
„Muss ich, Frau Lisa Muller?“, erwiderte er mit einer Gegenfrage und sah dabei aus wie ein Quizshowkandidat, der auf die Auflösung seiner Antwort wartete.
„Ja!“, antwortete sie knapp und begann, an ihm zu ziehen. Vorsichtig erhob er sich mit ihrer Hilfe. So wie es aussah, hatte er sich bei dem Sturz nicht verletzt. Ihre Kollegin kam von hinten und drückte ihr ein Glas mit frisch gepresstem Orangensaft in die Hand. Lisa wiederum reichte das Glas an Yuri weiter und er sah sich dabei um. Er war anscheinend in einem Salon gelandet, in dem sich viele gemütliche Sitzecken befanden. Die beiden Damen bereiteten gerade einen langen Tisch mit allerlei Snacks vor. Das Areal war zur Zerstreuung für die Gäste gedacht, wenn die Kämpfe im Außenbereich vorbei waren. Yuri nickte ihr dankbar zu, als er das Glas mit dem Saft entgegennahm und einen großen Schluck davon trank. Das tat wirklich gut. Lisa wirkte bereits etwas ungeduldig, denn sie stand mit Sicherheit unter Zeitdruck. Ihm musste etwas einfallen, schnell!
„Haben Sie heute schon vor etwas?“, fragte er die Stewardess mit schwerer Zunge. Es war das Erste, was ihm eingefallen war. Verdammter Alkohol.
„Ja, ich arbeite hier“, entgegnete sie und zog beide Augenbrauen hoch. „Also der Schiffsarzt befindet sich ein Deck über uns, wenn Sie ihn aufsuchen möchten. Wenn Sie wollen kann ich gerne jemanden rufen, der Sie dorthin begleiten wird.“
„Geht schon, nicht nötig ist“, antwortete Yuri und betrachtete sie fasziniert weiter. Es war wirklich unglaublich, wie schön sie war. Diese Haare, diese Stimme, dieses Auftreten… Sein Stand war noch immer leicht schwankend. Lisa legte nun ihre Hände in ihre Hüften und ihr Gesichtsausdruck wurde ungehalten.
„Hören Sie, wir müssen hier noch eine ganze Menge machen. Also wenn Sie nicht zum Arzt wollen und es Ihnen Ihrer Meinung nach besser geht, dann verlassen Sie jetzt bitte den Salon“, erklärte sie mit strenger Tonlage. Was für eine unglaubliche Frau!
„Wann Sie haben dienstfrei, wir könnten ausgehen vielleicht?“, lallte er. Sie schüttelte den Kopf und seufzte. Dann ging sie hinter Yuri und begann, ihn sachte in Richtung Türe und aus dem Raum zu schieben. Taumelnd ließ er es mit sich geschehen und fand sich nach ein paar Momenten auf dem Gang wieder.
„Seien Sie vorsichtig und halten Sie sich schön am Geländer fest“, hörte er Lisa hinter sich sagen. Er drehte sich um und sah, dass sie ihm kurz zuwinkte, dann die Salontüre schloss und von innen absperrte.
„Scheiße gelaufen ist“, brummte er und wankte weiter den Gang entlang.
Als Lisa zu ihrer Kollegin zurückkehrte und ihr wieder half, die Snacks von großen Platten herunter geschmackvoll auf den langen Tischen zu drapieren, kicherte diese.
„Das war ja wohl die Begegnung der dritten Art? Wir hätten die Türe besser von Anfang an abschließen sollen“, gluckste Cassy.
„Du hast recht. Hmm… schade eigentlich, er hat zwar unbeholfen aber auch recht sympathisch gewirkt. Was fängt man andererseits mit einem Mann an, der sich bei einem Event schon am Anfang komplett voll laufen lässt?“, sinnierte Lisa nach und platzierte das letzte Schüsselchen mit Kaviar von ihrer Platte.
„Ja, schlecht hat er ja nicht gerade ausgesehen. Ziemlich durchtrainiert wohl… Schade, dass er so viel trinkt“, seufzte Cassy. Dann begannen sie, gemeinsam mit Hämmern einen großen Eiswürfel zu zertrümmern und die abgeschlagenen Kleinteile mit dafür vorgesehenen Holzschaufeln in Sektkühler zu füllen.
Abigail wünschte sich in diesem Moment nichts mehr als ihren Rucksack, in dem ihr Walkie-Talkie steckte. Er lag zuhause neben ihrem Bett. Mit den kleinen Handtaschen und ihren schicken Abendgarderoben war es unmöglich gewesen, die verhältnismäßig großen und klobigen Funkgeräte mitzubringen. Außerdem hätten sie sofort Aufsehen erregt, wenn sie unter all den Leuten diese Dinger benutzt hätten. Sie konnte nur hoffen, Yuri schnellstmöglich zu finden. So schnell es ihre neuen Pumps zuließen, eilte sie die Treppen nach unten und befand sich nun auf dem Stockwerk, auf dem der Ringkäfig im Außenbereich von den Zuschauern belagert wurde, deren lautes Gejubel praktisch überall zu hören war. Irgendwo hier musste das reservierte Zimmer mit der Nummer 13 sein. Ihr Herz schlug schnell, weniger von der Laufanstrengung und umso mehr noch immer wegen des höchst verwirrenden Zusammentreffens mit Viktor Konakow. Was war da eigentlich passiert und wie hatte dieser Mann es geschafft, in so kurzer Zeit ihr gegenüber alles richtig zu machen? In Gedanken wäre sie fast an der gesuchten Türe vorbei gerannt, stoppte ab, öffnete und trat ein. Es war eine hübsch eingerichtete Kabine mit Doppelbett und einem Badezimmer. Auf dem Bett lag die Kleidung von Harry, die er offensichtlich gegen den Kampfdress getauscht hatte, außerdem die Handtasche von Yanny. Sie hatten sich im Vorhinein schon darauf verständigt, die Türe der Kabine für eventuelle Notfälle nicht abzuschließen. Aus dem Badezimmer drang ein Gurgeln und Prusten. Abigails Hand wanderte sofort instinktiv zum Dolch an ihrem Strumpfband, Momente später kam jedoch schon Yuri mit klatschnassem Kopf aus dem Bad.
„Wie siehst du denn aus?“, fragte Abigail ihn verwundert.
„Ah, nur gewaschen Kopf mit kalte Wasser, lange Geschichte ist. Naja, vielleicht nicht so lange, aber…“, sprach Yuri mit immer noch schwerer Zunge, jedoch schon ein ganzes Stück nüchterner.
„Erzähl’ mir die Geschichte wenn wir wieder zuhause sind, du >Held aus Stahl<. Hör mir zu: Dennis Dexter wird während des Finales ein geheimes Treffen in seiner Privatkabine haben, das ist die Gelegenheit um ihn zu erledigen. Er hält das Treffen dort in der Absicht ab, dass die ganze Aufmerksamkeit auf den Kampf gelenkt ist. Das gibt uns einen zusätzlichen Vorteil, weil die Gäste sein kontrolliertes Ableben nicht sofort mitbekommen werden“, führte sie aus.
„Sehr gut das ist“, erwiderte Yuri und stieß dann ordentlich auf, wobei Abigail das Gesicht verzog.
„Sag mal, hast du gesoffen? Wir sind hier auf einer brandgefährlichen Mission und du stellst dir eine Ladung Alkohol in den Schädel?“, hakte sie ungehalten nach.
„Aber nein, nur leichte Magenverstimmung“, brummte er und winkte ab. „Wo ist Kabine von Dexter?“
„Das werden wir gleich herausfinden. Trockne dich noch ab und wir ziehen los“, befahl sie entschlossen. Dann rückte sie ihren BH zurecht, in dem sie die Visitenkarte von Viktor verstaut hatte und lächelte in sich hinein.
Harry konnte sein eigenes Blut in den Ohren rauschen hören. Der letzte Satz von Travis Campbell hatte ihn aus dem Konzept gebracht. Er hätte sich am liebsten sofort auf ihn gestürzt und kochte vor Wut, als der Ansager den Ring mit einem boshaften Grinsen in seine Richtung verließ. Keinen kühlen Kopf bewahren zu können, konnte in einer Situation wie dieser tödlich enden. Das Gejohle und die Anfeuerungsrufe des Publikums wurden noch lauter als der Gong ertönte, der den Beginn des ersten Halbfinales einläutete. Troy marschierte sofort auf ihn zu, deutete mit der linken Faust einen Schlag an und setzte dann einen rechten Schwinger hinterher. Harry hatte mit einer derartigen Finte zu Beginn durchaus gerechnet und wich nach hinten aus. Schon in den ersten Sekunden des Kampfes wurde offensichtlich, dass er gegen seine eigenen Reflexe ankämpfen musste, die Schläge des Gegners zu blocken. Viele seiner jahrelang antrainierten Techniken basierten darauf, den Angriff des Gegners abzublocken und – soweit möglich – einen gleichzeitigen Konter zu starten. Er würde Troys Arme keinesfalls aufhalten können ohne Gefahr zu gehen, dass er sich dabei selbst die Arme oder Hände brach. Es würde ihm nicht viel anderes übrig bleiben, als den Schlägen auszuweichen und auf die Gelegenheit einer Lücke in der Deckung seines Gegners zu warten. Das war höchst ineffizient, weil es ihn viel Energie kosten würde, je länger die Auseinandersetzung dauerte. Energie, die ihm für den erfolgreichen Abschluss dieser Mission fehlen würde. Die nächste Faust kam heran geflogen und er wich abermals aus, spürte den Luftzug des Schwingers noch an seinem Gesicht, als die stählernen Knöchel ihn nur knapp verfehlten. Noch ein oder zwei Schritte und er würde das Gitter hinter sich erreicht haben, denn der Käfig hatte keine große Fläche. Wenn er keine Möglichkeit mehr zur Bewegung hatte, würde es um ihn geschehen sein. Troys linke Gerade schoss nach vorne, mit eben genau dem Ziel, Harry weiter zurückzudrängen. Harry reagierte ein weiteres Mal blitzschnell, wich nach rechts aus und schlug mit voller Kraft einen linken Haken in Troys ungeschützten Bauch. Der schnappte nach Luft, jedoch stand sein Körper so unter dem Einfluss von Adrenalin, dass er die Schmerzen kaum wahrnahm. Direkt nach dem Treffer drehte er sich schon wieder zu seinem Gegner und setzte zu einem Hagel von kurzen, jedoch unpräzisen Schlägen an. Harry versuchte abermals auszuweichen, wurde aber diesmal direkt an der Brust getroffen. Es fühlte sich an, als hätte er den Tritt eines Pferdes abbekommen. Ein beißender Schmerz breitete sich in seinem Oberkörper aus und er musste alle Konzentration aufbringen, damit er nicht verkrampfte und sich von Troys nächstem Angriff ablenken ließ. Der wiederum versuchte jetzt, mit einem Aufwärtshaken dem Kampf ein schnelles Ende zu bereiten. Harry sprang zur Seite. Zu spät realisierte er, dass auch dies eine Finte gewesen war und sprang somit direkt in Troys folgenden tiefen linken Haken. Der Schlag war mit großer Wucht ausgeführt worden und traf ihn geradewegs in die unteren Rippen. Harry blieb für ein paar Sekunden die Luft weg, als er bemerkte, was eben geschehen war. Er konnte im Moment des Aufpralls der Faust spüren, wie seine Rippen brachen und merkte sofort, wie ihm das durch die Anstrengung schwere Atmen zusätzliche Schmerzen bereitete. Seine Sicht verschwamm für ein paar Augenblicke und er hatte sich nicht mehr unter Kontrolle, taumelte nach hinten gegen das Gitter, konnte gerade noch verhindern, zu Boden zu stürzen. Troy nutzte die Gelegenheit des Wirkungstreffers und schoss auf Harry zu, packte ihn am Gürtel und am Hals, wuchtete ihn einem Gewichtheber gleich über seinen Kopf und trug ihn so in Richtung Ringmitte. Es war offensichtlich eine Demonstration von Überlegenheit, eine Zurschaustellung der Dominanz eines mit technischen Hilfsmitteln optimierten Körpers gegenüber einem Menschen aus purem Fleisch und Blut. Die Menge tobte begeistert, als Troy Harry waagerecht über sich hielt wie eine Trophäe. Er drehte sich langsam um ihn zu präsentieren wie ein erlegtes Tier. Harry hingegen wusste in dem Moment nicht, wie ihm geschah, benötigte ein paar Augenblicke um gewahr zu werden was gerade passierte. Unter all dem Getöse hörte er jedoch plötzlich eine Stimme, die er kannte. Es war Yanny, dessen war er sich sicher. Er konnte nicht verstehen was sie schrie, waren es überhaupt Worte? War sie in Sicherheit? Es war zu spät. Troy warf Harry aus dem Stand noch gut einen halben Meter in die Luft und ließ ihn somit aus vollem Fall krachend auf den harten Ringboden landen. Harrys Körper bestand nach dem Aufprall nur noch aus Schmerzen, er hustete, krümmte sich zusammen und bekam kaum noch Luft. Troy hingegen riss die Arme nach oben und ließ sich in Siegerpose von der Menge ein weiteres Mal feiern. Harry versuchte zu atmen, versuchte, seine linke Körperhälfte mit den gebrochenen Rippen vom Boden wegzudrehen. Es gelang ihm jedoch nicht und er war kurz davor, vollständig das Bewusstsein zu verlieren. Dann hörte er Yanny wieder, neigte seinen Kopf so gut es ging in Richtung ihrer Stimme. Verschwommen sah er, wie sie in großer Panik deutete und schrie. Dann wurde ihm schlagartig bewusst, was sie meinte und wovor sie versuchte, ihn zu warnen. Troy hatte seine Siegerpose abgebrochen und näherte sich ihm mit schnellen Schritten. Dann beugte er vor Harry ein Knie und holte zu einem großen Schwinger auf seinen Kopf aus, der vor ihm auf dem Boden lag. Heute schon sterben? War es dafür nicht doch ein wenig früh? Sonderbar, was einem in Momenten eines bevorstehenden Endes für Gedanken in den Sinn kamen. Und eben diesen Moment nahm Harry wie in Zeitlupe wahr. Troy schlug den Schwinger mit voller Kraft in Richtung seines Kopfes. Harry drehte sich mit einer schnellen Bewegung von dem Schlag weg, womit Troy in all seiner Siegesgewissheit nicht mehr gerechnet hatte. Er konnte durch die aufgenommene Wucht den Schlag nicht mehr abstoppen und die Faust durchbrach den Ringboden an der Stelle, an der Harrys Kopf eben noch gelegen hatte. Harry versuchte sich so schnell wie nur irgend möglich wieder zu erheben und bemerkte dabei, dass sich Troys Faust im Boden verkeilt hatte. Dieser riss und zog mit aller Kraft, bekam sie jedoch nicht frei. Anscheinend hatte sich seine stählerne Hand bei dem Schlag in einer der leicht federnden Stützen verkeilt, die den Ringboden von unten stabilisierten. Das war die Chance für Harry, er musste diesen Moment nutzen. Wenn sich Troy nun befreien konnte, würde er ihn nicht mehr aufhalten können. Trotz seines wie Feuer brennenden Brustkorbes holte Harry tief Luft, nahm Anlauf und setzte mit aller verbliebener Kraft zu einem Kick an. In diese Bewegung legte er eine leichte Drehung, um den Schwung noch weiter zu verstärken. Sein rechter Fuß traf den Kopf seines immer noch knienden Gegner mit solcher Stärke, dass ihm augenblicklich das Genick brach, als der Kopf in einem grotesken Winkel in Richtung Schulter gerissen wurde. Leblos sackte Troy, dessen Hand immer noch im Boden steckte, in sich zusammen und die Menge verstummte von einer Sekunde zur anderen. Als man verstand, was gerade eben passiert war, brandete hingegen neuer Jubel auf und man begann stattdessen, Harry als Sieger zu feiern. Dieser hatte indes genug damit zu tun, aufrecht stehen zu bleiben. Der Gong wurde geschlagen und die Fanfare ertönte, Momente später öffnete sich schon die Türe der gegnerischen Ringecke und Travis betrat den Kampfbereich. Sein Gesichtsausdruck sagte alles. Natürlich hatte er damit gerechnet, dass Troy die Auseinandersetzung für sich würde entscheiden können. Dann setzte er jedoch zu einem gezwungenen Grinsen an, nahm Harrys linke Hand und riss diese als Zeichen des Sieges nach oben. In der anderen Hand hielt er ein Mikrofon und war bereits dabei, einer kurze Ansprache zu beginnen um Harry als Gewinner des ersten Halbfinales auszurufen, als dieser plötzlich mit einem Ruck seine linke Hand aus dem Griff befreite, Travis am Jacket packte und ihn nahe zu sich herzog. Dieser starrte ihn mit entsetzten Augen an und ließ das Mikrofon fallen. Ein kurzes, lautes Kreischen drang aus der Soundanlage, als es auf den Ringboden fiel.
„Jetzt hat es sich endgültig ausgeschnüffelt, du Arschloch…“, knurrte Harry, holte aus und ließ seinen Vorderkopf krachend mitten im Gesicht des Ringansagers landen. Aus Travis’ gebrochener Nase schoss sofort ein ganzer Schwall Blut, als hätte man einen Wasserhahn aufgedreht. Harry, der sich nun nicht mehr unter Kontrolle hatte, schlug ein weiteres Mal zu und sein Gegenüber ging zu Boden. Die Menge hingegen jubelte frenetisch und aufgeheizt weiter. Man wollte ganz offensichtlich noch mehr Blut sehen, egal wie. Der Gong ertönte mehrere Male hintereinander in ohrenbetäubender Lautstärke und schon liefen drei der Sicherheitskräfte in den Ring, um Harry von seinem Werk abzuhalten.
„War das nicht ein ganz fantastischer Kampf, Leute? War das nicht eine ganz außergewöhnliche Show? Oh Mann, ich hätte mir fast in die Hosen gemacht!“, dröhnte plötzlich eine vergleichsweise hohe Männerstimme aus den Boxen. Alle Köpfe drehten sich nach oben. Es war Dennis Dexter, der auf dem Oberdeck stand und von dort oben den Kampf beobachtet hatte, nur unweit von dem Platz, an dem Viktor Konakow stand. Er trug einen weißen Anzug mit einer großen roten Blume im Knopfloch und eine runde Sonnenbrille, deren Gläser ebenso dunkelgelb waren wie seine mit Unmengen an Gel nach hinten gekämmten Haare. Neben ihm befand sich seine Frau Carla Brandon mit einem breiten Lächeln im Gesicht. Für sie verlief alles ganz nach Plan, Harry hatte das Halbfinale gewonnen. „Ich hoffe ihr habt euch ebenso gut unterhalten wie ich, meine lieben Freunde. Herzlichen Glückwunsch an den Sieger. Etwas unerwartet, aber was wäre das Leben ohne Überraschungen? Bevor ihr jedoch Troy entsorgt, achtet darauf welche Teile von ihm man am besten recyceln kann. Das Metall könnt ihr gerne haben, das interessiert mich nicht. Ich hätte es mehr auf seine Leber abgesehen“, grölte Dexter lachend, erhob dann sein Champagnerglas und nahm einen großen Schluck. Die Menge lachte nun ebenfalls und klatschte beschwingt.
„Was für ein Scheißladen hier…“, murmelte Harry, als ihn die Sicherheitskräfte losgelassen hatten und er in Richtung Yanny ging, die ihm bereits entgegen eilte.
Categorized as: Roman 2 (DE) | Romankapitel (DE)
Comments are disabled on this post