Elysium Roman 2 – Kapitel 9: Lauf so schnell du kannst
April 14, 2023
Abigail bog mit schnellem Schritt in Richtung Treppe ein um zu ihrer reservierten Kabine zurückzukommen, als sie in einigem Abstand einen Mann aus einem Raum mit einer Sicherheitstüre kommen sah. Er trug eine kugelsichere Weste über seinem weißen Hemd. An seinem Gürtel war ein Holster mit einer Pistole angebracht und über der Schulter hatte er eine Schrotflinte hängen, deren Lauf auf eine handliche Länge abgesägt worden war, um auf kurze Distanzen möglichst viel Schaden anzurichten. Die Programmiererin wurde stutzig. Natürlich waren alle Wachleute auf dem Schiff zweifellos bewaffnet, bisher hatte sie aber niemanden so offensichtlich schwer gerüstet herumlaufen sehen. Noch hatte der Mann sie nicht entdeckt und sie nutzte die Gelegenheit und versteckte sich schnell in der Einbuchtung einer nahegelegenen Türe. Mit angehaltenem Atem linste sie hervor und sah, wie der Mann sorgfältig abschloss und dann in die andere Richtung weiterging. Als er seinerseits um die nächste Ecke bog, fiel etwas Blitzendes aus seiner Hosentasche zu Boden. Abigail rieb sich aufgeregt den Nasenrücken und überlegte. Eigentlich sollte sie sich jetzt in die Kabine begeben und die anderen auf die bevorstehende Flucht vorbereiten, aber ihre Kopfhaut kribbelte geradezu vor Neugierde.
„Ach verdammt…“, wisperte sie zu sich selbst, ging zu der Stelle, an der dem Wachmann der Gegenstand aus der Hosentasche gefallen war und hob ihn mit spitzen Fingern auf. Es war ein Schlüssel, der an einem kleinen Metallring befestigt war, an dem sich außerdem einige Fäden schwarzen Stoffes befanden. Sie wünschte inständig sie hätte etwas Desinfektionsmittel bei sich gehabt, denn niemand konnte wissen wer diesen Schlüssel zuvor schon alles in der Hand gehalten hatte. Ihre Lippen kräuselten sich bei diesem Gedanken. Wahrscheinlich hatte sich der Schlüsselring am äußeren Taschenrand verhakt und war deswegen wieder herausgefallen. Mit einem kurzen Blick versicherte sie sich noch einmal, dass sich niemand sonst auf dem Gang befand um sie zu beobachten. Dann schlich sie zu der Sicherheitstüre, steckte den Schlüssel mit klopfendem Herzen ins Schloss und drehte ihn um. Vorsichtig öffnete sie und blickte hinein. Innen war es zu dunkel um viel erkennen zu können, aber in dem nicht all zu großen Raum befanden sich wohl einige Regale, auf denen kleinere Säcke und andere Gegenstände gelagert waren. Plötzlich hörte sie mehrere Stimmen und schnelle Schritte. Eine Waffe wurde durchgeladen, dann hallte ein kurzer Funkspruch durch den Gang. Was jetzt!? Sie durfte keinesfalls dabei erwischt werden, wie sie einen ganz offensichtlich verbotenen Raum geöffnet hatte. Schweißperlen traten auf ihre Stirn. Sollte sie einfach schließen und weitergehen? Dann würde sie jedoch nie erfahren, was dort drinnen gelagert wurde. Diese furchtbare Neugierde würde sie eines Tages noch ins Grab bringen. Sie zog den Schlüssel aus dem Schloss, sprang in den Raum und zog die Türe von innen zu. Keine Sekunde zu spät, denn schon Momente später stapften schwere Schritte draußen vorbei. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals und sie hielt den Schlüssel in ihrer verkrampften Faust. Es war stockfinster und sie begann, die Wand links und rechts der Türe abzutasten, fand schließlich einen Lichtschalter und betätigte ihn. In der etwa vier Quadratmeter großen Kammer reichten die Regalkonstruktionen bis an die Decke. Bei den Säcken, die Abigail von draußen hatte nur schlecht erkennen können, handelte es sich ganz offensichtlich um prall gefüllte Kokainbeutel. Tatsächlich war sie nicht all zu überrascht, ein Lager wie dieses hier zu finden. Der Wert mochte mehrere Millionen Dollar betragen. Vielleicht war es am Ende Dexters Privatvorrat? Aber was wollte der Wachmann hier? Sie sah sich weiter um und entdeckte neben ein paar Waffen und einer Kiste mit Munition auch einen quadratischen, sehr futuristisch aussehenden weinroten Kasten in der Größe von etwa zwei Schuhschachteln. Die Kanten waren abgerundet und an der Vorderseite befand sich ein silbernes Symbol, das acht Kreise zeigte, die durch gleichlange Linien miteinander verbunden waren. Das Symbol strahlte ein schwach pulsierendes Licht ab. War das etwa eine Bombe? Sie überlegte, schüttelte aber dann den Kopf. Warum sollte Dexter auf dem Schiff eine Bombe lagern? Der Kasten mochte sechs oder sieben Kilogramm wiegen und war leicht warm, als sie ihn aus dem Regal zog. Sie schätzte, dass er aus einer Art Hartplastik bestand. Erst dann entdeckte sie, dass an seiner Rückseite viele verschiedene Kabelanschlüsse eingebaut waren. Auch ein runder Einschaltknopf befand sich dort, auf dem sich das Symbol der Vorderseite wiederholte. Ihre Augen begannen zu strahlen, es handelte sich höchstwahrscheinlich um einen Computer. So ein Modell hatte sie jedoch noch nie zuvor gesehen. Es schien so ganz anders als die unhandlichen grauen oder nikotingelben Kästen, die sie sonst gewohnt war. Das Teil durfte keinesfalls hier zurückgelassen werden, schoss es ihr durch den Kopf und sie umklammerte den Computer dabei wie ein gerade eben erhaltenes, sehnlichst erwartetes Weihnachtsgeschenk. Genau in dem Moment hörte sie dumpf Schüsse und Rufe aus einiger Entfernung, weitere Schritte näherten sich von draußen. So ein Mist! Hastig legte sie den Computer zurück ins Regal und schloss die Türe von innen ab.
Yuri riss die Türe auf und sprang in die Kabine. In seiner Hand hielt er das Schwert, das er von Dexters Wand erbeutet hatte. Sowohl er als auch die Klinge waren mit Blutspritzern übersät. Yanny schaute erschrocken zu ihm. Sie war gerade dabei gewesen, sich einen Bademantel anzuziehen und war von dem Eingriff ebenfalls komplett blutverschmiert. Auch das Bett und der Teppich waren in keinem besseren Zustand. An ihrem Bauch befand sich eine handgroße, frisch vernähte Wunde.
„Was ist denn hier passiert?“, rief Yuri erschrocken, als er sie so sah.
„Es geht schon, das war nur…“, setzte sie zu einer Erklärung an, als Harry leicht taumelnd aus dem Badezimmer kam. Gerade eben hatte er sich die Hände waschen wollen. Er trug noch immer die Kleidung, die er zum Finalkampf angehabt hatte. Sie und seine beiden Hände waren ebenfalls über und über in Blut gebadet.
„Yuri? Wie siehst du denn aus? Was ist los, warum hast du ein Schwert in der Hand? Hat das mit Dexter funktioniert?”, fragte er ihn und musste sich dann kurz am Bettpfosten festhalten, um nicht umzufallen. Yuri hingegen zeigte nur Richtung Gang.
„Ja, habe Nippel bekommen bei Dexters Sado-Maso-Party. Große Scheiße kommen!“, rief er.
„Weißt du, ich hasse es wirklich wenn du das sagst…“, keuchte Harry und versuchte, noch einmal alle seine Kräfte zu mobilisieren. Wenn er jetzt zusammenbrach, konnte das in einer Katastrophe enden.
„Wo ist Babyeule? Sollte schon längst hier sein?!“, fragte Yuri nervös und sah sich um.
„Sie ist nicht hier gewesen! Hoffentlich ist ihr nichts passiert?“, stieß Yanny bestürzt hervor.
„Vielleicht sie musste schon runter?“, fragte Yuri und schlug dabei die Kabinentüre von innen zu. Momente später hörte man Schreie und mehrere Personen rannten draußen am Gang vorbei. „Wir müssen hier weg, schnell! Wenn uns finden hier, ist Ende!“
„Wohin sollen wir?“, fragte Harry.
„Nach unten zu Rettungsboot! Abigail meinte, wir damit flüchten und rudern zu Küste“, erklärte Yuri rasch.
„In Ordnung“, bestätigte Harry und nickte Yanny zu. Yuri riss die Türe sogleich wieder auf und machte einen Kontrollblick.
„Jetzt geht, bewegen Beine!“, grunzte er und rannte dann los in Richtung Treppe. Leute begannen zu kreischen. Der Hüne war mit dem Schwert in der Hand direkt durch eine Gruppe von Gästen gerannt. Panik breitete sich aus und viele sausten nun in wilder Furcht kreuz und quer durch die Gänge oder verschanzten sich in ihren Zimmern. Im aufkommenden Trubel konnten auch die herannahenden Wachen mit ihren gezogenen Waffen den Überblick nicht mehr behalten, sorgten ihrerseits für noch mehr Furcht unter den Passagieren. Harry und Yanny folgten ihm so gut es ging, hasteten zusammen die Treppe nach unten. Ein Stockwerk tiefer bahnten sie sich den Weg in Richtung der Rettungsboote.
„Abigail ist nicht hier!“, rief Yanny nach kurzem Umsehen entsetzt. „Wir können nicht ohne sie verschwinden!“
„Da hinten ist er und die anderen beiden sind bei ihm! Haltet sie auf!“, schrie eine Stimme aus der Richtung der Boote.
Yuri machte auf dem Absatz kehrt, rannte wieder in Richtung Innenbereich und zurück zur Treppe, die anderen knapp hinter ihm. Zu ihrem Glück liefen ihnen weitere Passagiere entgegen die verhinderten, dass die sie verfolgenden Wachen das Feuer eröffnen konnten. An der Treppe angekommen, hielt sich Harry einen Moment an dem Geländer fest und atmete durch. Er hatte das Gefühl, alles um ihn herum würde sich drehen. Es fehlte nicht viel und er würde sich übergeben müssen, wurde aber sofort wieder aufgeschreckt, als er einen langgezogenen Schrei von oben kommen hörte. Es war Abigail, die die Treppe mit großer Geschwindigkeit heruntersauste. Ihre Schuhe musste sie irgendwo ausgezogen haben, um besser rennen zu können. In den Armen hielt sie eine rote, teuer aussehende Kiste.
„Zu den Rettungsbooten verdammt!“, schrie sie ihren Kameraden zu.
„Nicht geht, alles voller Wachen!“, rief Yuri zurück und winkte ihr zu.
„Dann… eben noch weiter runter!“, schrie sie mit leichter Verzweiflung in der Stimme und rannte die Treppe ein weiteres Stockwerk tiefer.
„Aber da unten… ist doch der Maschinenraum?“, fragte Yanny.
„Stehen bleiben!“, schrie einer der Wachleute von hinten und schubste einen älteren Mann zur Seite, der ihm bei seiner Verfolgungsjagd im Weg gestanden hatte.
„Auf geht’s!“, schnaufte Harry und die drei machten sich sofort daran, hinter Abigail herzulaufen. Schon nach ein paar Schritten übergab sich Harry jedoch auf der Treppe, zwang sich aber sogleich wieder weiter zu rennen. In der untersten Etage war der Weg in Richtung Heck durch eine schwere Sicherheitstüre versperrt. Hinter dieser musste sich der Schiffsmotor befinden, der in einiger Lautstärke vor sich hin dröhnte. Es blieb nur noch der Weg Richtung Bug. Auch in dieser Richtung war eine Türe, die jedoch offen stand. Ein paar abgerauchte Kippen, leere Plastikflaschen und andere Hinterlassenschaften machten den Eindruck, als hätten hier bis vor Kurzem noch Wachleute gestanden, die überstürzt nach oben gerufen worden waren. Von der Treppe oben konnten sie ein lautes Poltern hören, als einer ihrer Verfolger auf dem von Harry hinterlassenen Fleck ausrutschte und die Treppen einige Meter nach unten kugelte. Die TRAP-Mannschaft lief weiter und schloss geschwind die Türe hinter sich, um so viel Zeit wie möglich zu gewinnen. Yuri gelang es Abigail zu überreden, ihm den Computer zum Tragen zu geben und sie gab ihn widerwillig aus der Hand, während Yanny dafür das Schwert an sich nahm. Harry hatte immer noch genug damit zu tun, sich überhaupt auf den Beinen zu halten. Als sie dem engen Gang weiter durch eine Schleuse in Richtung Schiffsbug folgten, erwartete sie eine große Überraschung. Der vordere Unterbauch der Riesenyacht trug ein kleines U-Boot von etwa fünf Metern Länge in sich, das von zwei enormen Greifarmen in einer Panzerglaskuppel gehalten wurde. Die Kuppel selbst war nach unten zum Wasser hin offen, um dem Boot das Ausklinken von der Yacht zu ermöglichen. Die Einstiegsluke des U-Bootes schloss nach oben zu einem Zugang in der Kuppel ab. An den Wänden befanden sich diverse Maschinen, um den Mechanismus der Greifarme zu steuern.
„Truppe, rein in Boot!“, befahl Yuri, lief zur Luke und kletterte samt dem weinroten Computer im Arm hinein, ohne auch nur die Reaktion seiner Mitstreiter abzuwarten.
„Ähm… weiß jemand von uns, wie man mit einem U-Boot umgeht?“, fragte Abigail. Ihr und Harrys Blick wanderten zu Yanny, die daraufhin lächelte.
„Ich kann es versuchen…“, stellte sie fest und nickte.
„Wunderbar, das reicht mir vollkommen“, erwiderte Abigail und lief ebenfalls zur Luke. Auch Harry schaffte es mit Yannys Hilfe ins Innere des U-Bootes und schlief auf einem der Sitze in dem engen Innenraum sofort ein.
„Was jetzt?“, rief Abigail nervös. Sie hörten, wie die Schleusentüre von draußen aufgebrochen und Befehle geschrien wurden. Yanny suchte das Steuerpult ab und überlegte. Dann fand sie anscheinend, wonach sie gesucht hatte. Sie öffnete eine kleine Klappe in der sich ein Stecker befand, packte diesen und zog mit ihm ein langes Kabel aus dem Steuerpult. Dann strich sie ihre Haare zur Seite und rammte sich selbst mit einem kurzen Ruck den Stecker in eine kleine Buchse, die sich an ihrem Hinterkopf befand. Ihre violetten Augen begannen leicht zu leuchten und sie schmunzelte.
„Viel besser, so geht alles viel schneller“, sagte sie. Eine Sekunde später schloss sich die Zugangsluke zum U-Boot wie von Geisterhand und die Greifarme, die das Boot hielten, öffneten sich und entließen es in die Tiefe des Meeres. Der Motor startete, eine rote Beleuchtung ging an und sie nahmen an Fahrt auf. Abigail war bleich im Gesicht, als sie mit angesehen hatte, wie sich Yanny das Kabel in den Hinterkopf gesteckt hatte.
„Jetzt fällt mir wieder ein, warum ich nie einen Führerschein machen wollte“, murmelte sie.
Categorized as: Roman 2 (DE) | Romankapitel (DE)
Comments are disabled on this post