Elysium Roman 3 – Kapitel 1: Zentralkrankenhaus
April 21, 2023
Als die Krankenschwester den nach Putzmitteln riechenden Flur durchquerte und die Türe des Einzelzimmers langsam öffnete um nach dem Rechten zu sehen, fiel ihr Blick sofort auf die Dame, die immer noch am Bett bei dem Patienten wachte. Sie seufzte leise und trat vorsichtig heran, um sie nicht zu erschrecken. Was jetzt kam war einer der unangenehmen Teile ihres ohnehin schon harten und anstrengenden Berufs. Sie räusperte sich und die Dame sah mit traurigen Augen zu ihr auf.
„Es tut mir leid aber ich muss Sie daran erinnern, dass die Besuchszeit in fünfzehn Minuten zu Ende ist“, sagte sie so sanft, wie es ihr unter dem permanenten Stresslevel möglich war. Privatzimmer im Zentralkrankenhaus waren nicht gerade günstig zu haben und zahlungskräftige Patienten waren in gewissem Sinne so etwas wie Premiumkunden. Dennoch galten die Regeln für alle. Der Mann, der dort im Bett lag, war seit zwei Tagen hier. Er hatte allerdings nicht den Eindruck gemacht zur gesellschaftlichen Oberschicht zu gehören. Auch die Leute die ihn besuchten taten dies nicht.
„Und wenn ich ganz leise bin? Ich verspreche Sie nicht zu stören“, entgegnete die Dame und machte ein unschuldiges Gesicht. Daraufhin schüttelte die Krankenschwester sachte den Kopf.
„Keine Ausnahmen. Leider. Morgen ab 10 Uhr wieder. Sollte bis dahin irgendetwas passieren, melden wir uns natürlich sofort telefonisch bei Ihnen. Ihre Nummer hatten Sie bereits bei der Aufnahme hinterlegt?“, sagte sie in einem verständnisvollen Tonfall.
„Ja… ja, das haben wir“, erwiderte die Dame nickend und lächelte bedrückt. „Also gut, dann habe ich noch genau 14 Minuten und 33 Sekunden.“ Auf diese Antwort hin linste die Krankenschwester kurz auf ihre digitale Armbanduhr und machte große Augen.
„Sie sind wirklich gut im Zeit schätzen, auf die Sekunde genau! Vielleicht sollten Sie damit mal in diese große Primetime Gameshow gehen, bei der man Wetten gegen Prominente abschließen kann“, sagte sie verblüfft und verließ dann das Zimmer wieder mit schnellem Schritt. Als sie die Türe hinter sich geschlossen hatte, beugte sich Yanny näher an Harry heran. Sie machte sich große Vorwürfe. Schon kurz nach der Rückkehr ins Hauptquartier war ihm ganz schrecklich übel geworden und seine Augen hatten begonnen zu schmerzen. Es musste eine Nachwirkung des Aufputschmittels gewesen sein, das sie ihm auf der Sea Lord nach dem Halbfinale gegeben hatte. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Sicherlich verfügte sie mittlerweile über ein beachtliches medizinisches Wissen, aber Menschen waren nun mal keine Maschinen. Menschen reagierten auf gleiche Dinge oft sehr unterschiedlich und das von ihr zubereitete Mittel war nie zuvor getestet worden. Langsam erkannte sie, dass es ihr an einem ganz wesentlichen Punkt mangelte was die Medizin betraf: Erfahrung. Genau das traf bei ihr aber auch auf alle anderen Dinge des Lebens zu. Harry zuckte unmerklich im Schlaf als sie näher zu ihm heranrückte, was ihr natürlich nicht entging. Gab es nichts was sie machen konnte? Bald musste sie aufbrechen, die Sonne war gerade eben untergegangen.
„Es tut mir so leid, Harry“, flüsterte sie niedergeschlagen. Sein Atem ging ruhig und gleichmäßig. „Ich muss gleich gehen… komme morgen wieder. Ralph kauft gerade die Sojariegel ein, die du so gerne magst. Von denen bringe ich dir eine ganze Tüte voll mit, versprochen…“ Langsam streckte sie ihre Hand zu seinem Gesicht aus. Warum sie dies tat, konnte sie selbst nicht genau sagen. Durfte sie das überhaupt? Er konnte sich in diesem Zustand schließlich nicht gegen ihre Berührung wehren. Vielleicht würde er ihr böse sein, wenn er es mitbekäme? Und während sie noch so dachte, streichelte ihre Hand auch schon langsam und zärtlich über seine Wange. Menschen berührten sich gegenseitig zu verschiedenen emotionalen Anlässen, aber war auch ihr so etwas erlaubt? Wie in Zeitlupe öffnete Harry seine Augen und als er Yanny erblickte, lächelte er. Sie hingegen erschrak ein wenig und zog ihre Hand schnell zurück. Der kurze Schreck ging jedoch sogleich in ein strahlendes Gesicht über, wenngleich sie seine Augen mit leichter Besorgnis musterte. Sie musste es ihm möglichst schonend beibringen…
„Wie geht es dir?“, wisperte sie, nahm ein Glas mit Wasser von seinem Nachttisch und hielt es ihm hin. Nachdem er einen Schluck getrunken hatte, antwortete er mit heiserer Stimme.
„Ganz gut eigentlich. Die Schmerzen und die Übelkeit sind fast weg. Wie lange habe ich geschlafen?“
„47 Stunden und 28 Sekunden“, strahlte sie und freute sich, ihm so eine präzise Antwort auf seine Frage geben zu können.
„Du hast den genauen Zeitpunkt gestoppt, an dem ich eingeschlafen bin?“, fragte er leicht verwirrt.
„Ja“, nickte sie, woraufhin er sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte. „Harry es tut mir so leid, dass ich dir den ganzen Ärger bereitet habe. Ich hätte dir das ungetestete Aufputschmittel niemals anbieten dürfen. Bitte verzeih’ mir“, fügte sie zerknirscht an.
„Yanny…“, brummte Harry.
„Ja?“, sagte sie kleinlaut.
„Das ist Blödsinn. Ohne das abgefahrene Zeug hätte ich das Finale wahrscheinlich nicht überlebt. Du hast alles richtig gemacht, keine Vorwürfe deswegen“, erwiderte er und lächelte. Er musterte sie ein wenig. „Du wirst ja ein bisschen rot?“ Daraufhin kicherte sie, hielt dann plötzlich inne.
„Harry, da ist noch etwas, das ich dir sagen muss“, flüsterte sie.
„Äh ja?“, fragte er.
„Deine Pupillen sind mittlerweile kirschrot. Das muss eine der Nebenwirkungen des Mittels sein“, sprach sie und spitzte ihre Lippen zu einer Schnute. „Korrekterweise ist es nicht kirschrot, sondern granatapfelrot. Das war der einzige Farbstoff, den ich dem Mittel beigemengt hatte. Dachte ein paar Vitamine könnten in dem Cocktail nicht schaden“, präzisierte sie. Harry überlegte einen Moment und zuckte dann mit den Schultern.
„In der Stadt rennen so viele Freaks herum, da fällt einer mit roten Augen nicht weiter auf“, merkte er gelassen an.
„Da wäre noch etwas…“, fuhr sie fort.
„Ja?“, erwiderte er, diesmal jedoch mit leichter Unsicherheit in der Stimme. Was kam jetzt? War ihm noch eine zweite Nase auf der Stirn gewachsen?
„Die Sonne ist vorhin untergegangen und in diesem Zimmer ist das Licht nicht angeschaltet. Unter normalen Umständen hättest du nicht sehen können, dass ich etwas rot im Gesicht geworden bin“, flüsterte sie. Wieder zögerte er mit einer Antwort und sah dann zum Fenster.
„Ist… es wirklich schon so spät? Ich kann eigentlich alles normal sehen. Jetzt wo du es sagst, ähm… Könntest du bitte das Licht anmachen?“, sprach er schließlich.
„Ja, klar“, nickte sie, stand auf und ging zum Lichtschalter, betätigte diesen. Harry stöhnte auf und hielt sich die Hand vor das Gesicht, als die Deckenbeleuchtung ihr grelles weißes Licht über sie beide ergoss. Es dauerte eine gefühlte kleine Ewigkeit, bis er sich an die Helligkeit gewöhnt hatte. „Das ist wirklich eine interessante Entwicklung. Deine Augen haben durch das Aufputschmittel anscheinend mehr Stäbchen auf der Netzhaut entwickelt, was dazu führt, dass sie weniger Lichtmenge benötigen um etwas zu sehen. Das menschliche Auge ist hierfür aber natürlich nicht ausgerichtet, deswegen stellt es sich zwischen Hell- und Dunkelphasen nur sehr langsam um und reagiert schmerzempfindlich“, analysierte sie mit einem faszinierten Ton in der Stimme. Harry seufzte tief.
„Könntet ihr mir vom nächsten Einkauf eine Sonnenbrille mit besonders dunklen Gläsern mitbringen?“, fragte er müde.
„Ja natürlich“, strahlte Yanny. Sie war sich nicht sicher ob Harry sich über seine neuen katzenartigen Augen freute oder nicht, aber sie war erleichtert, dass es ihm insgesamt wieder besser ging. Er räusperte sich.
„Ich gehe jetzt mal auf die Toilette… Muss dringend nachsehen, ob meine Augen das einzig mutierte an mir sind“, erklärte er leicht resignierend.
„Soll ich mitkommen? Ich kann deinen Körper millimetergenau nach jeder anatomischen Veränderung absuchen“, fragte Yanny mit wachsender wissenschaftlicher Begeisterung. Harry ertappte sich bei dem Gedanken, ob er den Notfallknopf für die Schwester betätigen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Sie würde ohnehin gleich kommen um ihm die drohende Ganzkörperinspektion zu ersparen, denn die Besuchszeit musste jeden Moment zu Ende sein.
Eine Woche später war man im Hauptquartier schon längst wieder vollzählig.
„Aufwachen Harry! Wir sind im Fernsehen!“ Yanny rüttelte ihn aufgeregt aus seinem Erholungsschlaf auf der Couch.
„W… was? Was ist denn…“, grunzte er, rappelte sich in eine Sitzposition auf und schob Ralphs alte Autodecke von sich, in die er eingewickelt gewesen war. An die Lichtempfindlichkeit seiner Augen hatte er sich mittlerweile gewöhnt. Allerdings schmerzte sein Kiefer immer noch von den Schlägen, die er im letzten Auftrag eingesteckt hatte. Die Schmerztabletten aus dem Krankenhaus waren inzwischen aufgebraucht.
„Da, sieh dir das an!“ Yanny zeigte auf den Bildschirm des Röhrenfernsehers. Zwei Nachrichtensprecher trugen gerade eben die letzten Neuigkeiten vor.
„… das sich vor zwei Wochen auf der Yacht Sea Lord des geschätzten Ehrenbürgers der Stadt Dennis Dexter zugetragen hat. Wie wir bereits berichteten, wurde er von einem Unbekannten in seinem eigenen Bett aus seiner Yacht ins Meer gestoßen.“
„Oh wow Mike, da werden sich die Haie aber ordentlich gefreut haben!“, sagte die zweite Nachrichtensprecherin, deren Zähne so weiß waren, dass Harry den Anblick mit seinen empfindlichen Augen nur schwer ertrug.
„Aber klar Sharon, das nenne ich mal Fischfutter Deluxe!“, erwiderte Mike und stieß ein herzhaftes Lachen aus, sodass seine mit unzähligen Flaschen Haarspray betonierte Frisur im Takt seiner Erheiterung mitwippte. „Auch bei ernsten Meldungen darf der Humor nicht zu kurz kommen, liebe Zuschauer, nur hier auf ENC-News auf Elysium Channel Network!“
„Die Polizei tappt bezüglich des Täters oder des Motivs immer noch weitestgehend im Dunkeln“, fuhr Sharon fort. „Gesucht wird ein kleiner bartloser und untersetzter Mann mit blonden Haaren.“ Harry merkte ob dieser Beschreibung verwundert auf und sah zu Yuri, der in dem Moment an den Fernseher herangetreten war. Der grinste breit und fuhr sich demonstrativ über seine Glatze und seinen flachen, durchtrainierten Bauch.
„Gigi Chiwawa gegeben hat falsche Beschreibung zu Bullen meinetwegen. Kann sein, dass mag sie mich“, verkündete er stolz, woraufhin Harry anerkennend nickte.
„Außerdem werden zwei attraktive junge Frauen und zwei Herrn gesucht, die angeblich bei den Geschehnissen eine Rolle gespielt haben sollen. Die Aussagen des Bordpersonals und der Passagiere erscheinen jedoch widersprüchlich, was höchstwahrscheinlich auf das Chaos zurückzuführen ist, das die Täter verursacht haben“, las Mike weiter vor und zeigte anschließend vier Phantombilder, die keine allzu große Ähnlichkeit mit den TRAP-Agenten besaßen.
„Ein bisschen mehr Mühe hätten die sich aber schon mit den Bildern geben können, wenn sie uns als attraktiv ankündigen“, kicherte Abigail, die hinten den Kopf aus der Küche gestreckt hatte und nun ebenfalls mit schaute. „Ich sehe doch nicht aus wie eine von diesen japanischen Comicfiguren, wenn das da auf dem Bildschirm mich darstellen soll? Oder etwa doch?“ Schon dröhnte die Stimme Sharons wieder aus dem Gerät.
„Die Geschäfte der Dexter Corporation werden nach dem plötzlichen Tod des Geschäftsmanns in Gänze von seiner Witwe Carla Brandon übernommen. Wir schalten nun zu einem Interview mit der Schauspiellegende und direkten Augenzeugin Gigi Chiwawa, deren neuestes Aerobic-Video reißenden Absatz findet. Wenn sie sich ebenfalls eine Kopie sichern wollen, wählen sie 1-800-Shake-Dat-Ass! Und nun rüber zu dir ins Studio, Brian.“ Seufzend stand Harry auf, wobei er seinen Kiefer festhielt und etwas nuschelte, das wie „ich mach mir mal eine Suppe“ klang, als Abigail plötzlich kreischend aus der Küche stürmte.
„Warum sind da tote Ratten mit roten Augen im Mülleimer!? Yanny, was weißt du darüber?! Hat das schon wieder etwas mit deinen Chemiexperimenten zu tun? Neuerdings finde ich ständig irgendwelches seltsames Zeug in der Wohnung!“
„Das ist nicht seltsames Zeug, das heißt Ralph“, murmelte Yuri. Der Cyborg begann daraufhin, schuldbewusst an den Fingernägeln ihrer neuen Hand zu kauen.
„Äh… meine Hausmäuse Pinki, Winki und Stinki schlafen nur… sie…“ Abigail baute sich nun vor Yanny auf und bebte vor Ekel.
„Du bist einer der leistungsfähigsten Computer auf diesem Planeten und kannst dir keine bessere Ausrede einfallen lassen?! Sofort auf dein Zimmer Fräulein!“, sagte sie mit zitternder Stimme.
„Ich habe kein Zimmer!“, erwidert Yanny mit einem leicht vorwurfsvollen Unterton und machte eine ausladende Handbewegung, um auf die Winzigkeit der Wohnung hinzuweisen. „Dann… äh… putz zur Strafe das Klo!“, erwiderte Abigail für einen Moment ratlos.
„Ich benutze das Klo nie!“, konterte Yanny nun und verschränkte die Arme störrisch vor der Brust. Auch dieser Punkt ging unbestritten an sie. Yuri, der nun gerade dabei war seine Waffen auf dem Schreibtisch zu ölen, schüttelte langsam den Kopf und schnalzte mit der Zunge.
„Das doch total unlogisch ist. Einer der leistungsfähigsten Computer dieser Welt soll unser Klo putzen?“, sagte er leicht geistesabwesend.
„Du solltest eigentlich auf meiner Seite sein, kleiner untersetzter blonder Mann!“, fuhr Abigail ihn an. Der stämmige Riese zuckte daraufhin nur mit den Schultern.
„Ich immer sage, man sollte beste aus einer Sache machen. In dem Fall, wie wäre es mit Gulasch? Bring Mäuse.“ Die Computerspezialistin wurde grün im Gesicht und verschwand höchst verärgert im Schlafzimmer, während Harry den Vorratsschrank nach einer Tütensuppe durchsuchte.
„Was ist eigentlich mit diesem anderen leistungsfähigen Computer, den wir vom Schiff gebracht haben mit? Das rote Teil mit silberne Symbol vorne dran“, fragte Yuri nun gen Yanny. Die war sichtlich froh über den Themenwechsel und begann sofort mit ihrer Erklärung.
„Ich habe ihn mir angesehen. Er ist eindeutig aus alter Technologie gebaut! Es ist ein Interface, das einen direkten Zugang zum DarkWeb des Teletextnetzes erlaubt. Die Datenkabel haben einen Anschluss für halborganische Datenbuchsen.“ Abigail, die das Gespräch offensichtlich mitgehört hatte, kam mit Gummihandschuhen und Putzlappen wieder aus dem Schlafzimmer.
„Halborganische Datenbuchsen? Du meinst die Implantate, die eine direkte Verbindung zwischen Menschen und Computern erlauben?“, fragte sie nun interessiert. Diese Neuigkeit ließ ihren Zorn schnell verrauchen.
„Genau die! Normalerweise werden solche Anschlüsse nur benutzt, um eine schnellere Steuerung von komplexen Maschinen zu ermöglichen, wie bei Kampfflugzeugen zum Beispiel. Die Technik steckt allerdings noch in den Kinderschuhen. Dieses Interface geht jedoch viel weiter“, führte Yanny aus.
„Inwiefern?“, hakte Abigail nach.
„Eure menschlichen Gehirne arbeiten weitestgehend über Visualisierungen. Das Interface stellt das DarkWeb jedoch nicht mehr als Zahlenkolonnen und Programmiercodes dar, sondern als eine eigene dreidimensionale Welt. Man könnte es als bewusstes Träumen beschreiben. Es ist eine neue Möglichkeit, sich in fremde Netzwerke zu hacken und Firewalls zu überwinden. Allerdings werden Viren, Firewalls und Abwehrprogramme für das menschliche Gehirn ihrerseits als verschiedene Entitäten übersetzt. Ein Abwehrprogramm kann zum Beispiel ein Gegner sein, ein Monster, ein Sturm…“, erklärte sie weiter.
„Was ist, wenn man in so einer Simulation verletzt wird?“ fragte Yuri, der mittlerweile aufgehört hatte an seinen Waffen herumzufummeln und nun aufmerksam zuhörte.
„Es bedarf einer gewissen Eintauchphase ins DarkWeb und natürlich auch einer Auftauchphase. Wie beim Tiefseetauchen kann man nicht zu schnell wieder zurück an die Oberfläche kommen, der Körper – oder in diesem Fall das Gehirn – muss sich erst langsam an den Druckunterschied gewöhnen. Abruptes Trennen vom Interface hätte eine Schädigung des Gehirns zur Folge. Sollte man in der Simulation selbst sterben, hat es ebenfalls ernste Hirnschäden zur Folge. Ein Kampf im DarkWeb gegen Schutzprogramme ist deshalb genau so gefährlich wie ein physischer Kampf in der Realität“, führte Yanny weiter aus.
„Das Ding könnte uns noch sehr hilfreich sein…“, überlegte Abigail, wurde aber in diesem Moment jäh in ihren Gedanken unterbrochen, als Ralph in einer Polizeiuniform gekleidet die Agentur betrat.
„Man gloobt et nich, Harry, ik hab dat Ding!“, grölte er gut gelaunt in die Runde und wedelte mit einem länglichen, in ein Saunahandtuch gewickelten Gegenstand.
„Wie siehst du denn aus?“, fragte Yuri, der den alten Punk skeptisch musterte.
„Na ik dachte so bei mir, machste dich ma schick für die kleene Sucharbeit und die Bullenkarre steht ja schon seit Wochen unjenutzt rum!“, blökte dieser. Abigail schlug sich mit der Hand auf die Stirn.
„Höchst unauffällig…“, seufzte sie.
„Ja, nich’ wahr?“, entgegnete Ralph grinsend, woraufhin Yanny zuerst kicherte aber sofort die Lippen wieder aufeinander presste, um Abigail nicht erneut zu erzürnen. Ralph hingegen warf Harry den Gegenstand zu, der diesen geschickt auffing und dann langsam auswickelte. Es handelte sich um das Schwert namens >Sternenhimmel<, das Yuri aus Dennis Dexters Luxuskabine gestohlen hatte. Während der Flucht hatten sie es im nun versteckten U-Boot auf dem Rückweg zur Agentur vergessen.
„Ausgezeichnet, danke!“, nickte Harry Ralph zu und betrachtete sich die Gravur auf der Waffe genauer. „Hoshizora… ja, die Übersetzung stimmt.“ Er lächelte und wickelte die Waffe wieder in das Handtuch, da sie vorerst keine Verwendung für sie hatten. Das Schwert war eindeutig für eine Frau geschmiedet worden. Yanny benutzte keine Waffen und Abigail würde ihren Colt sicher nicht gegen eine Nahkampfwaffe eintauschen.
„Keene Ursache Mann! Jetze hab ik mir erstma nen Joghurt verdient!“, gab Ralph kund, ging zum Kühlschrank und holte eine weiße Flasche mit Trinkjoghurt hervor. Yanny fragte sich insgeheim ob noch jemandem außer ihr aufgefallen war, dass Ralph schon seit Wochen immer aus der exakt gleichen Flasche trank und danach immer ziemlich beschwingt war? Was immer er da umfüllte, es war sicher kein Joghurt.
Später am Abend war die Grundreinigung der Toilette beendet und Abigail unterdrückte den Drang nach einer gründlichen Dusche. Sie beschloss, sich zuvor noch um >Pinki, Winki und Stinki< zu kümmern, bevor Yuri die fetten Rattenkadaver zu Gulasch weiterverarbeiten würde. Und das würde er, dessen war sie sich sicher. Sie hatte ihn in den letzten Wochen schon allerlei äußerst unappetitliche Dinge essen sehen, an seiner Bemerkung über die Verwertung von Yannys Labortieren gab es keinen Zweifel. Mit gekräuselten Lippen zog sie ein weiteres paar Gummihandschuhe über ihre ohnehin schon handschuhbewehrten Hände und eine Stoffmaske übers Gesicht. Dann näherte sie sich dem Mülleimer mit Todesverachtung. Mit spitzen Fingern klaubte sie den Müllbeutel zusammen, packte ihren Rucksack und verließ das Hauptquartier. Draußen ging sie die Straße hinunter, überquerte mehrere Kreuzungen und ignorierte die Blicke der Passanten, die auf den durchsichtigen Beutel mit den stinkenden, toten Ratten gerichtet waren, den sie mit ausgestreckten Arm vor sich hertrug. Was war so seltsam daran, einen Müllbeutel so weit weg wie möglich von seinem Körper zu tragen? Zwei Häuserblöcke weiter fand sie einen grünen Müllcontainer, in dem sie die sterblichen Überreste der Nager versenkte. Anschließend holte sie eine Flasche Feuerzeugbenzin aus ihrem Rucksack, verteilte deren Inhalt im Container und steckte ein Streichholz an, das sie hinterher schnippte. Die Überreste von Yannys dubiosen Experimenten verbrannten in einer mächtigen Stichflamme, gingen in Rauch und Asche auf. Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen kehrte sie zur Agentur zurück. Jetzt hatte sie sich ihre Dusche wirklich verdient.
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