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Elysium Roman 3 – Kapitel 4: Abstieg


Die drei waren überrascht, wie wenig Leute sich zur Zeit an dem U-Bahnhof aufhielten. Schon bei den Treppen auf dem Weg in den Untergrund herrschte normalerweise zu jeder Tages- und Nachtzeit ein reges Treiben. Die Stadt war während der Besiedlungszeit in der Fläche sehr schnell gewachsen und man hatte es in dieser Frühphase und in Anbetracht des kräftezehrenden Überlebenskampfes auf einem neuen Planeten bedauerlicherweise versäumt, sich um ausreichende Massenbeförderungsmittel Gedanken zu machen. Das U-Bahn-Netz war erst ein paar hundert Jahre alt und nachträglich implementiert worden, um dem permanent chaotischen Autoverkehr auf den Straßen etwas Entlastung zu verschaffen. Offenkundig auch zu spät. In anderen Städten auf 86 mochte die Lage anders aussehen, aber hier in Elysium war die Infrastruktur in dieser Beziehung ein Dauerproblem.
„So wie es aussieht, meiden immer mehr Leute die U-Bahn wegen der Überfälle“, kommentierte Harry die Lage, als er sich zusammen mit Abigail und Yuri am Treppeneingang von Knoten 2 umsah. Die Computerspezialistin fasste leicht nervös nach ihrem kleinen silbernen Colt, den sie griffbereit unter ihrer Jacke versteckt hatte und presste die Lippen aufeinander. Seitdem sie die beiden Fotos von dem toten Crawler aus den Ermittlungsakten gesehen hatte, gruselte sie sich davor den Untergrund zu betreten. Vor ihren Kameraden konnte sie das aber natürlich nicht zugeben, dafür war sie zu stolz. Es musste ihr nur irgendwie gelingen, an etwas Schönes zu denken und die düsteren Gedanken zu vertreiben. Eine Villa am Nordstrand zum Beispiel. In einem hübschen Kleid und mit einem Cocktail in der Hand am Abend über die reichste Promenade der Stadt zu seinem eigenen Anwesen schlendern. Wirklich ein schönes Luftschloss!
„Dann lasst uns gehen, Leute“, sagte Yuri tatendurstig. „Hoffentlich fällt nicht aus Strom wenn wir sind da unten, weil Crawler zwischendurch alle Elektriker fressen“, fügte er grinsend an und gab Abigail einen freundschaftlichen Klaps auf den Rücken. Die jedoch riss nur die Augen auf und merkte, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten. Na wunderbar, noch eine Horrorvorstellung mehr, deren Möglichkeit sie noch überhaupt nicht in Betracht gezogen hatte.
„Alles gut Aby?“, fragte Harry, dem aufgefallen war, dass sie immer noch am Treppenabsatz zögerte, während Yuri bereits stoisch und breitbeinig nach unten marschierte.
„J-ja… was soll denn nicht stimmen?“, erwiderte sie und wieselte plötzlich betont schnell die Treppen hinab, dabei entfuhr ihr ein nervöses Lachen. Harry kniff ein Auge zu während er ihr nachsah, zuckte dann nur mit den Schultern und folgte ihr. Auf dem längeren Weg zum Eingang des Bahnsteigs kamen ihnen nur vereinzelte Passagiere entgegen. Viele der kleineren Geschäfte hier im Untergrund waren bereits geschlossen und hatten die schweren Sicherungsgitter vor ihren Schaufenstern heruntergezogen. Wenn sich die Lage nicht bald besserte, würde Bürgermeister Stanford zweifellos einen größeren politischen Schaden davontragen.
„Da vorne ist der Eingang“, stellte Harry fest und zeigte in eine breite Abzweigung. Der Eingangsbereich war mit einem etwa zwei Meter hohen Metallzaun mit dicken Streben versperrt, in dem sich mehrere große Drehkreuze für den Aus- und Eingang befanden. Neben dem Zaun auf der rechten Wandseite waren fünf Ticketautomaten angebracht.
„Wir haben Glück, Zaun nicht hoch ist“, sagte Yuri grinsend.
„Du willst über das Gitter klettern?“, fragte Abigail mit hochgezogener Augenbraue und sah sich immer wieder um als rechnete sie bereits damit, plötzlich aus einer dunklen Ecke angesprungen zu werden. Die Beleuchtung hier unten konnte man nicht unbedingt als übermäßig großzügig gehalten beschreiben.
„Ja, wir in offiziellem Auftrag hier sind. Muss nicht kaufen Ticket, geht auf Stadtkosten“, stellte Yuri fest und versuchte, seine Worte nach einer möglichst logischen Schlussfolgerung klingen zu lassen. Sein breites Grinsen konterkarierte diese Wirkung jedoch.
„Da ist eine Kamera an der Wand“, stellte Harry trocken fest und deutete mit seinem Kinn nach oben, während er langsam die Sonnenbrille abnahm. Die schlechte Beleuchtung des Untergrunds kam seinen veränderten Augen nur entgegen.
„Dann ich versuchen elegant zu klettern mit schöne Körperhaltung, damit gibt gute Bilder von mir“, entgegnete Yuri und näherte sich dem Zaun.
„Hey, und ich? Wie soll ich da rüber kommen? Ich bin klein!“, protestierte da Abigail.
„Kannst dich festhalten auf meine Rücken, wie Baby Koala“, lachte Yuri, woraufhin sie die Arme vor der Brust verschränkte und ein beleidigtes Gesicht machte.
„Babyeule, Babykoala… warum muss ich eigentlich immer…“, begann sie und wurde von Harry unterbrochen, der ihr mit einem Pokerface eine fünf-Dollar-Note in die verschränkten Arme steckte.
„Bring mir auch ein Ticket vom Einkaufen mit, Schatz“, sprach er wie beiläufig und zeigte auf die Fahrkartenautomaten.
„Manchmal seid ihr solche Ärsche“, grummelte Abigail und stakste zu den Automaten. Yuri hingegen streckte seine Hände aus, griff sich die oberste Querstrebe des Zauns und zog sich daran mühelos hoch. Die Lederjacke spannte sich um die prallen Muskeln seiner gewaltigen Arme.
„Bitte unterlassen Sie es, über den Zaun zu klettern und lösen Sie ein Ticket. Sie können in Münzen oder Scheinen bezahlen“, dröhnte eine mechanische Stimme aus einem kleinen Lautsprecher neben der Kamera.
„Was zur Hölle…“, sagte Harry und drehte sich zu Yuri um.
„Na super“, seufzte Abigail, die gerade dabei war das zweite Ticket für Harry zu lösen. Yuri hingegen dachte überhaupt nicht daran, schwang nun sein rechtes Bein nach oben und hakte die Wade ein, um sich langsam über den höchsten Punkt zu drehen und sanft auf der anderen Seite zu landen. So zumindest war sein Plan.
„Bitte unterlassen Sie es, über den Zaun zu klettern und lösen Sie ein Ticket. Sie können in Münzen oder Scheinen bezahlen“, dröhnte es erneut aus dem Lautsprecher.
„Weder eine Münze noch einen Schein stecken ich in Automat hinein“, reimte Yuri und hing nun direkt oben am Zaun, wobei er feixend einen Daumen nach oben zu seinen beiden Kameraden zeigte.
„Was wird er sich nur alles von den gesparten zweieinhalb Dollar kaufen können…“, seufzte Abigail und drückte Harry eines der beiden Tickets in die Hand.
„Bitte unterlassen Sie es, über den Zaun zu klettern und lösen Sie ein Ticket. Sie können in Münzen oder Scheinen bezahlen“, kam zum dritten Mal die Aufforderung der mechanischen Stimme.
„Niemals“, brummte Yuri und war schon dabei, sich auf die andere Seite fallen zu lassen, als es plötzlich einen lauten Knall gab und er vom Zaun herunter in Richtung seiner Kameraden geschleudert wurde. Als er mit voller Wucht auf den Boden plumpste, zitterte er am ganzen Körper, die Augen weit aufgerissen.
„Was ist die Scheiße!?“, presste er hervor.
„Wirklich interessant, habe mich schon die ganze Zeit gefragt ob die hier keine Sicherheitsmaßnahmen eingebaut haben“, kommentierte Harry und streckte seine Hand zu Yuri aus, um ihm wieder auf die Beine zu helfen.
„Mit einem Starkstromgitter hätte ich jetzt auch nicht gerechnet, aber eigentlich eine coole Idee“, kicherte Abigail, die ihr Ticket in einen kleinen Kasten neben einem Eingangsdrehkreuz steckte und dieses dann mit einem betont eleganten Hüftschwung durchquerte.

Als Yanny und Ralph das Hauptgebäude der Universität betraten, waren die meisten Seminarräume und Vorlesungssäle gerade in Benutzung und geschlossen. Aufgrund des Anlasses hatte sie sich ein schick aussehendes Kostüm mit hohen Schuhen angezogen und ihre lilafarbenen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. In dieser Kleidung hätte man sie eigentlich für eine Dozentin halten können, die mit einem freundlichen Gesicht und einem blauen Ordner in der Hand durch die langen Gänge schritt. Der alte Punk der neben ihr ging, durchbrach diesen Eindruck jedoch. Die zahlreichen Ketten auf seiner zerschlissenen Lederjacke klimperten mit jedem schlurfenden Schritt, während er sich in gebückter Haltung am Gesäß kratzte und sich von Zeit zu Zeit lautstark räusperte.
„Der Verwaltungstrakt befindet sich ein Stockwerk höher“, erklärte Yanny, die sich gerade einen an der Wand und hinter Glas hängenden Grundrissplan des Gebäudes angesehen hatte. Ralph murmelte irgendetwas unverständliches als Antwort, zog einen Kaugummi aus seiner Jacke und schob ihn sich in den Mund. Ein paar Minuten später waren sie auch schon am Ziel angekommen und befanden sich in einem Gang mit vielen Büros. Angestellte gingen immer wieder zwischen den Zimmern hin und her und schienen zu beschäftigt, um von den beiden Notiz zu nehmen. Yanny und Ralph sahen sich aufgrund des demonstrativen Desinteresses der Belegschaft hier einen Moment lang fragend an. Eine Dame kam aus dem Zimmer links von ihnen und hatte einen Stapel Papiere in den Händen. Sie steuerte geradewegs auf ein anderes Büro zu, das weiter hinten im Gang lag.
„Entschuldigen Sie bitte, wir hätten eine Frage…“, sprach Yanny sie lächelnd an.
„Keine Zeit Kindchen, Sprechstunde erst um 15 Uhr bei den Dozenten, sofern Sie überhaupt einen Termin haben“, sagte die Dame in einem sehr bestimmten Ton, der hart an der Grenze zur Unfreundlichkeit kratzte.
„Aber ich wollte doch nur…“, begann Yanny erneut, da war die Dame auch schon kopfschüttelnd fortgeeilt. Ralph rieb sich das Kinn und seine ohnehin runzlige Stirn legte sich in noch mehr Falten. Er sagte jedoch nichts. Wenige Momente später kam ein großer, schlanker Herr aus dem Zimmer zu ihrer Rechten und stakste an ihnen vorbei.
„Oh entschuldigen Sie, könnten wir Ihnen vielleicht eine Frage stellen…?“, begann Yanny nun betont freundlich zu ihm und legte dabei den Kopf etwas schief.
„Sprechstunde ist um 15 Uhr“, entgegnete der Herr mit einer gehetzten Note in der Stimme und war schon wieder dabei weiterzumarschieren, als plötzlich Ralphs Hand nach vorne schoss, ihn von hinten am Kragen packte und mit einem starken Ruck zurückriss.
„Du beantwortest jetzt sofort die Fragen der Dame oder ich drück’ dir die Vorderzähne in den Hals, haste verstanden?“, knurrte der Punk und verstärkte den Zug auf den Hemdkragen des Mannes, indem er seinen linken Unterarm von hinten gegen sein Genick presste. Dieser röchelte und lief schnell blau im Gesicht an, versuchte verzweifelt seine Finger in seinen Hemdkragen zu stecken um sich Entlastung von Ralphs eisernem Griff zu verschaffen. Würgend und keuchend ging er in die Knie, während Yanny sich immer noch unschuldig lächelnd vor ihn stellte.
„Ich habe ein paar Fotos von einer Schrift, die ich nicht entziffern kann. Sie haben doch eine Fakultät für Sprachen? Vielleicht könnten Sie mir einen Spezialisten empfehlen, an den wir uns in dieser Angelegenheit wenden können?“, fragte sie und tippte dabei auf ihren Ordner. Der Mann würgte und japste nach Luft, wedelte hilflos mit den Armen. Seine Augen waren weit aufgerissen und es sah so aus, als würden sie ihm jeden Moment aus dem Kopf quellen.
„Na da kuckste, wah?“, sagte Ralph ruhig und hielt ihn weiter im Klammergriff. Yanny überlegte einen Moment.
„Ich glaube du solltest ihn etwas weniger würgen, damit er antworten kann“, stellte sie fest, nachdem sie sich ihre Anatomiekenntnisse ins Gedächtnis gerufen hatte.
„Ahja?“, erwiderte Ralph und ließ schlagartig los. Der Mann sackte vor Yanny auf den Boden zusammen, hustete und rieb sich den Hals. Mittlerweile waren ein paar andere Angestellte aus den Zimmern gekommen und sahen erschrocken auf die Szenerie. Türen wurden hastig zugezogen und von innen verschlossen. „Wir sind ganz Ohr“, meinte Ralph zu dem Mann und knetete sich die Hände.
„Dr. Iwanow, Abteilung alte Sprachen im Nebengebäude 3, Zimmer 17…“, krächzte dieser zur Antwort.
„Vielen Dank, das hilft uns weiter. Haben Sie noch einen schönen Tag“, verabschiedete sich Yanny fröhlich und ging dann den Gang zurück, aus dem sie gekommen waren.
„Siehste? So eenfach wär’s jewesen“, sprach Ralph noch schulterzuckend zu dem Mann, der weiterhin eingeschüchtert am Boden kauerte und folgte dann Yanny wieder.
„War das nicht ein bisschen… drastisch eben?“, fragte Yanny gen Ralph, als die beiden auf dem Weg zum besagten Nebengebäude das Hauptgebäude verließen und er ihr dabei die Türe aufhielt.
„Süße, wenn et nötig ist würge ick den janzen Campus so lange bis du deine Infos bekommst“, erwiderte Ralph grinsend.
„Oooh, das ist echt lieb von dir“, erwiderte Yanny kichernd.

Gute zehn Minuten und ein wenig Herumirren in unübersichtlichen Gängen später standen die beiden vor dem Büro von Dr. Niclas Iwanow. Yanny klopfte an und wartete kurz, bis eine tiefe Stimme sie zum Eintreten ermutigte. Sie öffnete und betrat den Raum zusammen mit Ralph. Jede Wand des kleinen Büros war mit Bücherregalen bis zur Decke zugestellt. Viele von ihnen waren ein Stück weit aus der jeweiligen Reihe gezogen, überall lugten Post-its und Lesezeichen heraus. Es roch leicht muffig nach altem Papier und Staub. Hinter einem unpraktisch und klobig wirkenden Schreibtisch saß ein älterer Mann mit einer Halbglatze und einem Schnauzbart. Seiner abgewetzten Kleidung nach zu urteilen gab er nicht viel auf Äußerlichkeiten. Er tippte mit beiden Zeigefingern auf der Tastatur eines vor ihm stehenden Computers. Seine Lesebrille war so weit nach vorne geschoben, dass es so aussah als würde sie ihm jeden Moment von der Nase fallen. Neben der Tastatur lagen vier aufgeschlagene Bücher kreuz und quer übereinander und auf seinem Schoß balancierte er einen großen Notizblock, der mit krakeligen Stichpunkten vollgeschrieben war.
„Wie… kann ich Ihnen helfen?“, murmelte er ohne vom Bildschirm aufzusehen. Yanny konnte einen ganz leichten russischen Akzent in seinen Worten erkennen der verriet, dass er höchstwahrscheinlich nicht in Elysium aufgewachsen war.
„Sie sind Dr. Iwanow?“, fragte sie freundlich.
„Ja genau“, nickte er und sah die beiden an. Als er Ralph erblickte und der ihn breit angrinste, zog er beide Augenbrauen nach oben. Auch diese hübsche Frau hatte durch ihre Haarfarbe einen leicht unwirklich scheinenden Touch. Natürlich waren bunt gefärbte Haare bei den jungen Leuten nichts Ungewöhnliches. Allerdings sah man immer sofort, dass es sich um eine aufgetragene Farbe handelte. Ihre Haare wirkten jedoch auf gewisse Weise natürlich, so als wären sie ihr schon in dieser Farbe gewachsen.
„Wir arbeiten beide für die Stadt“, begann Yanny ihre Erklärung. „Das ist Herr…“ Sie stockte. Genau in diesem Moment wurde ihr bewusst, dass weder Ralph noch sie einen verwendbaren Nachnamen hatten. „Das ist Herr Smith und mein Name ist Williams“, improvisierte sie schnell. „Wir sind wegen zwei Fotos hier, bei denen wir mit unseren Ermittlungen nicht weiterkommen.“
„Ermittlungen?“, fragte Iwanow knapp. Wahrscheinlich waren die beiden von der Polizei und in einer Art Undercovermission unterwegs. Immerhin war das eine unerwartete Abwechslung vom Alltag.
„Leider können wir nicht all zu viel preisgeben“, wich Yanny aus und setzte ihr charmantestes Lächeln auf.
„Das ist kein Problem. Und… wie genau kann ich Ihnen jetzt weiterhelfen? Sie kennen mein Fachgebiet sicher, sonst wären sie jetzt nicht hier. Worum geht es?“, bohrte der Wissenschaftler nach, der trotz seiner Verwunderung nun wirklich neugierig geworden war. Yanny legte ihren Ordner an einer freien Stelle auf seinem Tisch ab, blätterte zu der Klarsichtfolie mit den Fotos und zog die entsprechenden beiden Bilder heraus.
„Ich muss Sie um Ihre absolute Diskretion bitten“, sagte sie, als sie ihm die beiden Fotos reichte. Wahnsinn! Fast wie in einem Agentenfilm, dachte Iwanow bei sich.
„Sie machen es aber auch spannend“, entgegnete er lächelnd und besah sich die Bilder. Sein Gesichtsausdruck fror jedoch ein als er erkannte, was sich auf ihnen befand. Dann atmete er lautstark aus. „Jetzt verstehe ich, was Sie mit Diskretion meinen…“, nickte er schließlich. Ralph schloss indessen die Bürotüre um sicherzugehen, dass sie nicht von draußen belauscht wurden.
„Sagen Ihnen die Schriftzeichen irgendetwas, haben Sie so etwas schon mal gesehen?“, fragte Yanny. Iwanow überlegte, drehte die Bilder und hielt sie immer wieder ganz nahe vor seine Augen. Dann sah er die beiden an.
„Die Tafel von Southpoint Lair sagt Ihnen nichts, nehme ich an?“, fragte er zurück.
„Nein“, antwortete Yanny. Sie las kreuz und quer was ihr in die Finger kam, aber davon hatte sie noch nie etwas mitbekommen.
„Die Geschichte geht ziemlich weit zurück in den Annalen der Stadt. Vor etwa 270 Jahren, als das U-Bahn-Netz der Stadt gebaut wurde, stieß man irgendwann im südlichen Untergrund völlig unerwartet auf ein natürliches Höhlensystem. Der Fund freute die Planer des Projekts natürlich ungemein, denn man konnte nun auf bereits vorhandene Strukturen zurückgreifen, was eine Unmenge an Kosten und Bohrzeit einsparte und das Projekt viele Jahre früher fertig werden ließ als ursprünglich erhofft“, begann Iwanow mit seiner Ausführung.
„Im Süden der Stadt sagen Sie…“, überlegte Yanny.
„Genau. Der Punkt ist aber ein Fund, der damals in einer dieser natürlichen Höhlen gemacht wurde und als >Tafel von Southpoint Lair< in die Geschichte der ungeklärten Fälle einging.“ Mit diesen Worten erhob er sich aus seinem Sessel und begann, das Regal hinter ihm abzusuchen. Es dauerte nicht lange und er wurde fündig, zog eine dicke Chronik hervor. Die legte er auf den kleinen Berg bereits geöffneter Bücher und blätterte zu einem bestimmten Eintrag. „Bei dieser Tafel, die damals gefunden wurde, handelte es sich um eine massive Steintafel in die eine völlig unbekannte Schrift geritzt worden war. Man ging damals nach einer eher oberflächlichen Analyse davon aus, dass es sich um einen gut gemachten Scherz handeln musste. Irgendetwas, das die Auflagen der Zeitungen in die Höhe schnellen lassen sollte. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum Sie von dem Vorfall nichts gehört haben. Es ist ganz einfach eine Randnotiz, die Sache wurde von der Wissenschaft recht schnell fallen gelassen. Keiner wollte seine Karriere ruinieren, indem er sich ernsthaft mit so einem Jux beschäftigt. Deshalb existieren auch keine Abhandlungen darüber, nur kleinere Artikel in der Stadtchronik“, erklärte Iwanow weiter. Ralph fuhr sich nachdenklich durch seine Bürstenfrisur, während der Doktor abermals umblätterte und seinen Finger auf eine abgedruckte Fotografie der Tafel legte. Die beiden sahen neugierig auf die Abbildung. Viele der Schriftzeichen auf der Tafel waren absolut identisch mit den Ritzungen auf dem Rücken des Crawlers. „Ach du scheiße… von wegen Zeitungsente…“, murmelte Ralph. „Wo ist diese Tafel jetzt? Wo können wir sie uns ansehen?“, fragte Yanny. Sie wusste nicht, wie genau sie die Sache im Zusammenhang mit dem Crawlerproblem einordnen sollte. Diese neuen Informationen warfen nur noch mehr Fragen auf. „Die wenigen im Zentrum existierenden Museen weigerten sich beharrlich, diese Tafel auszustellen“, erklärte der Wissenschaftler. „Nachdem das Teil ein paar Jahre im Stadtarchiv verbrachte, interessierte sich ein gut situierter Kuriositätensammler aus Brightland dafür. Also überstellte man die Tafel per Frachtschiff und die Stadt nahm etwas Geld dafür ein. Wo sich das gute Stück heute nach all der Zeit befindet und ob es überhaupt noch existiert, kann wohl niemand so genau sagen.“ Dann nahm er seine Brille ab und putzte deren Gläser mit seinem verschlissenen Hemd. „Vielen Dank für Ihre Hilfe, Dr. Iwanow“, bedankte sich Yanny. „Dürfte ich mir noch Kopien von dem Artikel in der Chronik machen?“ „Gerne, den Kopierer draußen vor meinem Büro in dem offenen Raum links haben Sie wahrscheinlich schon gesehen?“, antwortete dieser. „Ja“, nickte der Cyborg und nahm das große Buch entgegen. „Warten Sie, für das Ding braucht man eine Kopierkarte…“ Mit diesen Worten zog er eine runzlige Aktentasche unter seinem Schreibtisch hervor und öffnete sie. Yannys Augen begannen plötzlich begeistert zu leuchten, als sie zwischen den unsortierten Papieren und einer Plastikbox mit belegten Broten in seiner Tasche einen ganz besonderen Schatz erblickte. Es handelte sich um zwei vollkommen identische Actionfiguren der neuen TV-Serie >Heroes of Ulthrard<, die einen massigen Barbaren in Fellhose mit Schwert und einem Brillenhelm auf dem Kopf darstellten.
„Oh, Sie haben Figuren von Caine Powerheart?“, fragte sie strahlend.
„Sie kennen diese Plastikdinger? Ja… mein kleiner Sohn ist ein absoluter Fan dieser Serie und wünscht sich andauernd neue Figuren. Beim Spielwarenladen hier in der Nähe gibt es zur Zeit eine Aktion bei der große Überraschungskugeln verkauft werden, in denen sich die Figuren befinden. Der Nachteil ist natürlich, dass man nicht weiß welche man genau bekommt. Ich Pechvogel ziehe natürlich genau zwei Kugeln, in denen sich die genau Gleiche befindet“, seufzte Iwanow und betrachtete die absolut begeistert wirkende Yanny nun mit wachsendem Erstaunen.
„Du guckst die Zeichentrickserie doch auch immer?“, stellte Ralph grinsend gen Yanny fest, die daraufhin etwas errötete.
„Ich bin beim Zappen manchmal an einer Folge hängen geblieben, das war reiner Zufall“, versuchte sie sich herauszureden. Ralph grinste noch breiter denn er wusste genau, dass sie keine Folge verpasste seit die Serie lief. Dr. Iwanow reichte Yanny zusammen mit der aufgeschlagenen Stadtchronik die Kopierkarte, die er endlich in der Aktentasche gefunden hatte. Als sie das Büro kurz in Richtung Kopierraum verlassen hatte, flüsterte Ralph gen Iwanow:
„Wat soll die Doublette denn kosten?“ Dabei zog er seine Geldbörse aus der Hintertasche seiner Hose. Man wurde sich schnell handelseinig, ohne dass Yanny es mitbekam und Ralph versteckte die Figur in seiner Jacke. Nachdem sich die beiden schließlich bedankt und verabschiedet hatten, nahm ihnen Iwanow noch das Versprechen ab, dass sie ihn zumindest weiter über die Verbindung zwischen der Tätowierung und der Steintafel auf dem Laufenden hielten, wenn es neue Ergebnisse gab. Außerdem gab er ihnen seine Visitenkarte mit. Kurze Zeit später konnte der Wissenschaftler Yannys lauten Freudenschrei von der Straße her sogar noch durch sein geschlossenes Fenster hören. Sie hatte also die Figur bekommen. Er schüttelte langsam den Kopf und lächelte. Was für eine sonderbare junge Frau.


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