Elysium Roman 3 – Kapitel 5: Spurenlesen in der Dunkelheit
May 19, 2023
Kurz bevor die U-Bahn in die Station einfuhr, hatte Abigail gerade ihre Gummihandschuhe fertig angelegt. Yuri, der sich mittlerweile wieder von dem Stromschlag erholt hatte, beobachtete sie dabei mit einem sanften Lächeln, während Harry sich in einiger Alarmbereitschaft umsah. Sein Schwert hatte er diesmal an seinem Rucksack befestigt, umhüllt von einer extra dafür angefertigte Tasche, die zur Tarnung der Form eines Golfschlägers nachempfunden war. Sie standen direkt neben einem Kiosk, in dem ein griesgrämiger älterer Herr in einer versifften Schürze und einem Papierhut mit einer >Würstchen Productions<-Aufschrift auf dem Kopf dabei war, Hot Dogs auf einem eingebauten Grill zu wenden. Es roch so, als hätte er die Dinger Anfang letzter Woche dort abgelegt. Er war einer der wenigen, die ihr Geschäft im Untergrund noch nicht geschlossen hatten. „Wie wär’s mit einem Hot Dog? Die sind gerade im Preis reduziert“, sprach er Harry an, öffnete sich dann eine Dose Fucko-Cola und begann, geräuschvoll zu trinken. „Nein danke… hab vorhin schon gegessen“, lehnte Harry ab und linste leicht angeekelt auf die vertrockneten Würste, die teilweise aufgeplatzt und angebrannt waren. Dann wandte er sich wieder dem Geschehen auf dem Bahnsteig zu und schätzte, dass nur etwa 25 Fahrgäste mit ihnen hier warteten. Die meisten von ihnen waren sehr schlicht bis ärmlich gekleidet. Es waren natürlich die Leute, die sich den Umstieg auf irgendein anderes Verkehrsmittel nicht leisten konnten. Sicherheitskräfte oder Polizisten suchte man – wie sollte es auch anders sein – vergebens. Als die U-Bahn einfuhr, betraten sie einen der mittleren Wagons und blieben im Durchgangsbereich stehen. Im Sitzen würden ihnen eventuell wichtige Details entgehen und sie würden weniger schnell auf unvorhergesehene Ereignisse reagieren können. Viele der Bezüge der Bänke waren aufgeschlitzt worden, das billige Kunstleder war speckig und es roch dezent nach öffentlicher Toilette. Yuri versuchte ein paar der unzähligen Grafittis an den Fenstern zu entziffern, hatte jedoch kein Glück damit. „Ey Harry, was das da drüben bedeuten?“, fragte er seinen Kameraden und zeigte auf ein verhältnismäßig gut aussehendes, gesprühtes Bild. Es schien einen grotesken roten Kopf mit Hörnern und wilden schwarzen Haaren darzustellen, darunter waren japanische Schriftzeichen angebracht. „Sonderbar… das ist ein Oni“, antwortete Harry. „Das ist sowas wie ein Dämon. Die Schrift darunter bedeutet >unbesiegbar< und >Territorium<. Es scheint fast so, als wäre der Schreiber kein Japaner gewesen. Der Stil ist ungeübt und die Linien der Kanji sind teilweise zu verkürzt, teilweise zu lang.“
„Sollen wir nach Heavy Steamer durchfahren?“, unterbrach Abigail. „In einem von den Polizeiberichten stand, dass die Crawler dort aus einem Lüftungsschacht gekrochen kamen. Den sollten wir uns vielleicht mal ansehen.“
„Gerne“, bestätigte Harry und auch Yuri nickte. Irgendwo würden sie schließlich ansetzen müssen. Es vergingen ein paar ereignislose Minuten und man erreichte die nächste Haltestelle. Nur eine Handvoll Leute stiegen aus, andere zu. Auch als die Bahn wieder Fahrt aufnahm, gab es keine Gespräche unter den Fahrgästen. Manche starrten auf mitgebrachte Magazine und Zeitungen um sich abzulenken, andere schauten angespannt aus den Fenstern, beobachteten den düsteren Tunnel durch den sie fuhren. Durch die Innenbeleuchtung in den Wagons sah man aufgrund der Spiegelung ohnehin kaum nach draußen. Das monotone Tackern der Räder auf den Schienen war allgegenwärtig und es kam einem viel lauter vor wenn es sonst nichts gab, das davon ablenkte. Diese bedrückende Stimmung schien sich auf Abigail schon nach kurzer Zeit erheblich niederzuschlagen und sie begann leise vor sich hin zu summen. Wenige Momente nachdem sie die nächste Station passiert und wieder Fahrt aufgenommen hatten, flackerte die Deckenbeleuchtung im gesamten Wagon und es ging ein Ruck durch die Bahn, der die stehenden TRAP-Agenten leicht ins Wanken geraten ließ. Die Computerspezialistin biss sich nervös auf die Unterlippe und sah hinauf zu den Neonröhren, sagte jedoch nichts.
„Vielleicht hat überfahren Maulwurf?“, versuchte sich Yuri an einer Erklärung, dem Abigails Nervosität nun nicht mehr entgangen war.
„Quatsch“, zischte diese nur und wippte leicht auf und ab. Dann flackerte das Licht erneut und ein weiterer Ruck ging durch die Bahn. Die anderen Fahrgäste in dem kaum besetzten Wagon sahen jetzt auch von ihren Zeitschriften auf oder nestelten unruhig an ihren Taschen herum. Einer von ihnen stand auf fing an nachzuprüfen, ob alle Fenster wirklich gut verschlossen waren. Die Anspannung die in der Luft lag, war zum schneiden dick. Plötzlich klingelte das Agentur-Mobiltelefon und Abigail zuckte erschreckt zusammen. Schnell räusperte sie sich um ihre Reaktion zu überspielen, fischte das Telefon aus ihrem Rucksack und zog die lange Antenne aus.
„Ja hallo?“, meldete sie sich.
„Hallo A…gail… hier ist Yanny. Wir ha… Neuig… f… Euch. Sind ge… von … Universität zu….“, knackte und rauschte da Yannys Stimme aus dem Apparat.
„Ich verstehe dich nur ganz schlecht“, antwortete Abigail und prüfte nochmal die Antenne. „Scheiße, der Empfang hier unten im Schacht ist furchtbar.“
„Aby ka… mich hör…?“, kam noch vom anderen Ende durch, als die Verbindung endgültig abriss.
„Diese Telefone funktionieren nicht hier unten?“, fragte Harry erstaunt. Er hatte vor seiner Zeit in der Agentur noch nie eines besessen und somit auch keine Erfahrung damit.
„Schätze die Funkwellen werden zusätzlich noch durch die Oberleitung beeinträchtigt? Keine Ahnung“, knirschte Abigail und schob die Antenne des Telefons wieder ein, als es plötzlich einen lauten Knall aus der Richtung der Lok gab und das Licht für einige Momente komplett ausfiel. Passagiere begannen zu schreien.
„Wir werden alle sterben!“, kreischte ein Mann von weiter hinten aufgebracht.
„Jetzt beruhigen Sie sich doch, kein Grund wegen einem kurzen Stromausfall gleich durchzudrehen!“, rief Harry zurück. Die Dunkelheit in der sie sich befanden, machte ihm durch seine veränderten Augen nicht viel aus. Es gab hier durch ein paar sehr schwache Lichtröhren draußen im Tunnel genug Restlicht, damit er sich noch einigermaßen orientieren konnte. Natürlich hatte er sich sofort umgesehen, konnte aber keine Crawler oder andere Bedrohungen entdecken. Yuris Hand hingegen wanderte schon in Richtung seiner Pistole, als er plötzlich Abigails Hand an der seinen spürte, die wortlos neben ihm stand. Kalt und feucht war sie. Sie hatte den Gummihandschuh abgezogen um ihn besser spüren zu können. Er nahm sie und drückte sie ganz sanft. Anscheinend machte ihr diese Situation insgesamt doch etwas mehr zu schaffen, als sie sich von Anfang an hatte eingestehen wollen. Der Hüne fragte sich warum sie nicht gleich nach den Taschenlampen griff, die sie mitgenommen hatte. Wahrscheinlich vertraute sie jedoch darauf, dass das Licht schnell wieder angehen würde. Dann legte er seinen Arm um sie, beugte sich zu ihr hinunter und flüsterte mit beruhigender Stimme: „Kein Problem ist. Bevor irgendwer dir tut was, erst an mir vorbei müssen.“ Es schien zu helfen, denn ihr Atem verlangsamte sich wieder.
„Danke Großer… ich glaube das habe ich gebraucht…“, flüsterte sie etwas kleinlaut zurück. Sekunden später ging in der Mitte des Wagons eine kleinere, dunkelrot leuchtende Röhre an der Decke an und ein Lautsprecher begann zu knacken.
„Verehrte Fahrgäste, wie Sie sicher schon bemerkt haben ist ein kleineres technisches Problem aufgetreten“, meldete sich die Stimme des Schaffners.
„Nein, ist uns noch nicht aufgefallen!“, schrie der leicht hysterische Passagier wieder von hinten.
„Klappe!“, rief Harry zurück.
„Es sieht so aus als läge das Problem bei uns an der Lok, irgendwas am Stromkreislauf. Bis die Sache wieder funktioniert, kann ich leider nur die Notbeleuchtung laufen lassen. Ich werde Sie auf dem Laufenden halten, wünsche Ihnen trotz allem einen guten Aufenthalt hier bei uns in der Elysium Subway“, knarzte es weiter aus dem Lautsprecher.
„Der hat vielleicht Nerven“, grummelte Abigail.
„Schade, dass Yanny nicht hier ist. Die hätte das Ding in ein paar Minuten repariert“, seufzte Harry. Der hysterische Mann weiter hinten begann nun unkontrolliert zu kichern und Yuri warf ihm einen scharfen Blick zu.
„Soll ich ihn schlafen legen?“, fragte er sachlich und massierte seine rechte Faust. Harry überlegt kurz, denn das Angebot war verlockend. Der Typ brachte die anderen Passagiere nur noch mehr auf und er hatte eigentlich keine Lust darauf, mit 30 panischen Leuten zusammen in einem Wagon festzustecken. In dem Moment meldete sich der Schaffner wieder.
„Verehrte Fahrgäste, wie es aussieht ist eine Sicherung komplett durchgebrannt und ich muss Ihnen leider mitteilen, dass wir keinen Ersatz mehr haben. Ich habe bereits mehrere Funksprüche zur Zentrale abgesetzt und hoffe, bald Rückmeldung zu bekommen“, erklärte er.
„Wie kann das denn überhaupt passieren? Und wenn es passieren kann, warum haben die keine Ersatzteile dabei?“, fragte Harry verwirrt.
„Dachte immer im Süden von 86 laufen Dinge besser als bei uns im Norden“, merkte Yuri an und fuhr sich durch den Bart.
„Leute… seid mal kurz still, hört ihr das auch?“, fragte Abigail plötzlich aufgeregt. Sie hatte recht, da war ein Geräusch gewesen. Ein dumpfes Pochen, so als wäre etwas von oben auf das Dach des Wagons gefallen. Dann war ein Kratzen zu hören, so als würde sich etwas oder jemand in Richtung Bahnende bewegen. Die drei schauten langsam hoch an die Decke und folgten dem Geräusch mit ihren Blicken.
„Klingt so, als würde der Schaffner die Oberleitung durchchecken“, überlegte Harry leise. Abigail war nun kreidebleich geworden und fing ein wenig zu schwitzen an.
„Jungs, wir können hier nicht einfach so die ganze Zeit untätig rumstehen, das halte ich nicht aus“, sagte sie dann betont sachlich und man merkte, wie sehr sie sich zusammen riss.
„Was machen?“, fragte Yuri.
„Ich habe nur wenig Ahnung von dieser Art Maschinen, aber ich könnte mir das Ding da vorne ja zumindest mal ansehen?“, erklärte Abigail. „Vielleicht liegt der Fehler ja doch an einer anderen Stelle? Dann habe ich zumindest das Gefühl, dass wir etwas nützliches tun.“ Harry zog sein Schwert aus seiner Golfschlägertasche und befestigte es nun griffbereit hinten am Rucksack, was unter den anderen Fahrgästen für Getuschel sorgte.
„Klar, bin dabei. Dafür müssen wir aber aus diesem Wagon raus und vor zur Lok“, nickte er. Yuri zog sein großes Kampfmesser aus seinem Stiefel und steckte es in seinen Gürtel, überprüfte kurz den Sitz seiner Pistole in der Jacke.
„Los geht das“, grinste er. Als die drei schließlich auf eine der Türen zugingen, rannte der hysterische Mann von hinten zu ihnen, stellte sich direkt davor und breitete die Arme aus.
„Ihr Verrückten macht keinesfalls die Türe auf!“, kreischte er entsetzt. „Die Crawler werden hereinkommen und uns umbringen! Der Wagon bleibt zu!“ Yuri reagierte blitzschnell, packte den Mann an seiner Jacke und hob ihn unsanft hoch, damit er ihm in die Augen schauen konnte.
„Den Typen hier wir mitnehmen, brauchen ohnehin Köder für Viecher da draußen“, sagte er gelassen, woraufhin der Mann schrill zu wimmern begann und mit Armen und Beinen zappelte. Die restlichen Passagiere hingegen betrachteten diese Szene äußert ängstlich und keiner traute sich ein Wort zu sagen.
„Na ich weiß nicht“, grinste Harry. „So laut wie der schreit, vertreibt er uns die Crawler nur und dann lösen wir das Problem wahrscheinlich nie.“
„Fängt auch schon zu stinken an“, stellte Yuri nun leicht angewidert fest als ihm klar wurde, dass sich der Mann gerade eben vor Angst in die Hosen gemacht hatte. Er setzte ihn wieder auf den Boden ab und dieser rannte sofort zum hintersten Sitz im Wagon und verschanzte sich zitternd dort. Abigail zog einen rotgefärbten Hebel, der für die Notöffnung der Türe gedacht war und machte damit den Weg frei. Dann kramte sie in ihrem Rucksack und zog zwei Taschenlampen hervor. Eine davon reichte sie Yuri, der ihr dankbar zunickte. Im Tunnel war es kalt und die Luft roch feucht und abgestanden, als sie ins Freie traten. Schwache Lichtröhren waren in größeren Abständen an den Wänden angebracht und ließen gerade einmal den Verlauf der Strecke erahnen. Manche von ihnen flackerten leicht, da sie das Ende ihrer Lebensdauer bald erreicht hatten. Yuri leuchtete mit der Taschenlampe zuerst hoch zum Dach der U-Bahn, konnte allerdings nichts Auffälliges entdecken. Dann gab er seinen Kameraden ein Zeichen und sie gingen zusammen nach vorne zur Lok, klopften dann an das Führerhaus. Der Schaffner öffnete und wirkte reichlich erstaunt, in einer solchen Situation Besuch zu bekommen. Nach einer kurzen Begrüßung ließ er die drei in das Führerhaus klettern.
„Das Teil hier ist es“, erklärte er und hielt ihnen eine weiße, aber reichlich verkohlte Sicherung in der Größe einer Bierdose unter die Nase. „Normalerweise haben wir Ersatzteile für Notfälle dabei, aber irgendjemand hat wohl seine Arbeit nicht sehr gewissenhaft ausgeführt.“ Abigail, die gerade einen Blick auf die Maschine geworfen hatte, konnte im ersten Moment auch keinen anderen Fehler feststellen.
„Gibt es denn trotzdem irgendetwas, das wir machen können? Wenn Sie immer noch keine Antwort auf Ihre Funksprüche bekommen haben kann es doch sein, dass sie nicht gehört worden sind? Dann hängen wir hier noch länger fest?“
„Die U-Bahn ist durch die wenigen Fahrgäste vor kurzem auf einen Halbstundentakt herunter reguliert worden“, überlegte der Schaffner. „Da wir den nächsten Checkpoint noch nicht erreicht haben, dauert es eine Weile bis man unsere Störung bemerken wird. Die nachfolgende Bahn wird jedoch automatisch an unserer letzten Station gehalten, um eine Kollision zu verhindern. Dann kann es bei der derzeitigen Personalsituation allerdings – genau wie Sie sagen – wirklich ein paar Stunden dauern, bis man uns hier rausholt. Immerhin weigern sich viele der Techniker überhaupt noch das Netz zu betreten. Also wenn Sie mich so direkt fragen… es gibt hier in einigen hundert Metern Entfernung tatsächlich einen Wartungsraum in dem Werkzeuge und Ersatzteile deponiert wurden. Solche Räume sind überall auf dem Netz in größeren Abständen verteilt, damit die Techniker nicht immer die komplette Ausrüstung mit sich bringen müssen.“
„Dort gibt es auch Sicherungen?“, hakte Abigail sofort mit hoffnungsvoller Stimme nach.
„Die Chance ist zumindest groß, außer sie wurden schon alle verbraucht und nicht nachgefüllt“, nickte der Schaffner bestätigend. „Ich hoffe nur Sie verlangen nicht von mir, dass ich Sie bei diesem Unterfangen begleiten werde. Würde mir nämlich ehrlich gesagt in die Hosen machen, wenn ich jetzt in diesen Tunneln herumspazieren müsste.“
„Da wären Sie heute nicht der Erste, dem das passiert“, grinste Harry und steckte die verkohlte Sicherung in seinen Rucksack, um sie als Muster für später mitzunehmen. Dann ließen sie sich von dem Schaffner eine kurze Wegbeschreibung geben, öffneten die Loktüre und traten wieder nach draußen. Abigail atmete tief durch. Nun war sie es, die ihre Waffe überprüfte, bevor sie sich auf den Weg in die Dunkelheit machten.
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