Elysium Roman 5 – Kapitel 10: Abschied
October 20, 2023
Aksinja stützte sich zufrieden auf der Heugabel ab, klemmte die Zinken zwischen ihre Gummistiefel und sah den Ziegen im mittlerweile blitzblank geputzten Stall beim Fressen zu. Seit sie Sergej aus Neo Jakutsk zu seinem Elternhaus begleitet hatte, konnte sie nicht genug von diesen Tieren bekommen. Sie hatte vom ersten Tag ihrer Ankunft an begonnen, Irina bei allen ihren Hausarbeiten nach besten Kräften zu unterstützen. Die beiden Frauen waren sich schnell sympathisch gewesen und Sergejs Tante gab ihr Wissen über Tierhaltung gerne an die ehemalige Sklavin weiter, die keine Anstrengung scheute und von der sie kaum etwas persönliches wusste. Sie vertraute Sergej auch in dieser Hinsicht voll und ganz und hielt sich mit allzu persönlichen Fragen zurück. Die Zeit würde ohnehin zeigen, warum sie die Stadt freiwillig verlassen hatte. Den Ort, zu dem so viele junge Menschen wollten um eine vermeintlich bessere Zukunft zu finden.
Aksinja hingegen war glücklich hier in der Peripherie, wenngleich der Winter in seinen letzten Zügen das Land noch immer fest im Griff hielt. Ihr Leben hatte sich zweifelsohne zum Besseren gewandelt, seit sie die Metropole hinter sich gelassen hatte und mit jeder Stunde die sie am Land verbrachte, schien sie mehr und mehr aufzublühen. Begeistert nahm sie alle Eindrücke und Erfahrungen dieses einfachen und harten Lebens in sich auf, stand fasziniert Abend für Abend im Garten und sah sich die Sterne am Himmel an, die sie Dank der dichten Dunstglocke in der Stadt noch nie zuvor hatte sehen können. Als die ersten warmen Sonnenstrahlen den Schnee zum Schmelzen brachten, taute auch Aksinjas Schweigen über ihre Vergangenheit gegenüber Irina auf. Sie erzählte, Stunde um Stunde und je mehr sie erzählte, desto leichter wurde ihr, desto freier wurde ihr ums Herz. Sie sprach so viel, dass sie darüber heiser wurde und redete sich ihr ganzes Leben von der Seele. Irina kochte ihr Tee und hörte zu. Hörte Dinge, die sie nicht für möglich gehalten hatte. Dinge die sie berührten, entsetzten und schockierten. Sie sah diese Frau nun in einem anderen Licht und das Mitleid, das sie über all diese Berichte empfunden hatte, wich langsam einer stillen Bewunderung. Bewunderung wie Aksinja es überhaupt geschafft hatte, nach allem was ihr widerfahren war noch immer am Leben zu sein. Als sie geendet hatte, saßen sie sich schweigend gegenüber. Irgendwann stand Irina auf und nahm Aksinja in die Arme, die daraufhin zu weinen begann. Es würde noch mehr Zeit brauchen. Zeit um die Wunden auf ihrer Seele heilen zu lassen.
Drei Tage später stapfte Sergej mit schweren Schritten in die Küche. Über seinen Schultern hing ein Reh, das er vor zwei Stunden auf der Jagd erlegt hatte. Er legte es in einem großen Bottich ab und atmete tief durch.
„Das ist ja wunderbar!“, freute sich Aksinja, die gerade einen Brotteig zubereitete und aufgrund des unerwarteten Jagderfolgs übers ganze Gesicht strahlte. „Von dem Reh können wir eine ganze Woche lang essen!“ Sergej lächelte kurz und wischte sich dann mit dem Ärmel den Schweiß aus dem Gesicht. Er hatte das tote Tier über eine weite Strecke getragen und war nun vollkommen erschöpft. Dann schüttelte er sachte den Kopf.
„Nicht wir, ihr“, erwiderte er leise. Aksinjas Augen weiteten sich. Sie zog die Hände aus der Teigschüssel, wischte sie an ihrer Schürze ab und kam näher zu ihm.
„Nein…“, flüsterte sie.
„Du weißt, ich muss es tun“, antwortete er und wich ihrem Blick aus. Alles wurde nur noch viel schwerer, wenn er in ihre großen Augen sah. Ihr Blick, ihre liebliche Gestalt waren das Einzige, was seinen Entschluss doch noch ins Wanken bringen konnte.
„Nein, bitte nicht, tu mir das nicht an…“, flüsterte sie erneut und ihre Stimme begann dabei zu zittern. „Es stimmt nicht, du musst das nicht machen. Du bist nicht für ihn verantwortlich. Wir können hier leben, in Frieden. Wie viel ist denn überhaupt noch von ihm übrig? Und was willst du unternehmen? Wie willst du ihn finden? Was willst du dann tun?“ Ihre Verzweiflung wurde mit jedem Satz stärker. Sergej wagte nicht, ihr ins Gesicht zu sehen. Es gab nichts auf der Welt, das er lieber getan hätte als bei ihr zu bleiben. Trotzdem gab es etwas, dass diesen Wunsch überwog. Er wusste was geschehen würde und er konnte es nicht einfach ignorieren. Er konnte sich nicht selbst belügen.
„Du hast den Lord gehört, du kennst den Plan der Partei. Du weißt, was sie mit ihm vorhaben. Ich muss das unter allen Umständen verhindern“, sagte er mit einem leichten Seufzen. „Du weißt, was er ist und wohin er geschickt wird. Aus irgendeinem Grund kann ich ihn noch immer spüren. Es wird also kein großes Problem für mich sein, ihn auch noch ein zweites Mal zu finden.“
„Und was willst du dann tun? Ihn aufhalten? Ihn töten? Wie willst du jemand töten, der schon gestorben ist? Mit deiner Axt wirst du ihn nicht verletzen können, nicht einmal mit deiner Pistole!“, fuhr Aksinja ihn nun an und in ihrer Stimme schwang die Verzweiflung mit. Sergej schüttelte den Kopf.
„Nein. Nein, wie sollte ich das auch schaffen? Das Einzige was ich versuchen kann ist, ihn zu überreden seinen Befehlen nicht mehr zu folgen. Es muss noch genug Menschliches in ihm sein, irgendwo auf dem Grunde seines immer noch schlagenden Herzens. Irgendwo, tief in ihm verborgen. Er wird sich an mich erinnern können, ich glaube fest daran.“
„Sergej… du… du wirst sterben… Er wird dich töten“, sprach Aksinja mit erstickter Stimme. Sergej kam näher zu ihr und nahm ihre teigverschmierten Hände in die seinen, sah ihr nun doch ganz offen in die Augen.
„Nein, ich verspreche es. Er wird mich nicht töten. Und ich werde wiederkommen, wenn ich diese Sache erledigt habe“, sagte er zu ihr und legte alle Überzeugungskraft die er aufbringen konnte in diese Worte. „Ich werde morgen noch vor Sonnenaufgang aufbrechen.“
„Deine Tante…“, flüsterte Aksinja.
„Sie darf es vorher auf keinen Fall erfahren. Ich habe bereits einen Abschiedsbrief geschrieben, den werde ich in die Küche legen bevor ich gehe. Bitte, mach dir keine Sorgen und pass gut auf sie auf. Ich melde mich, wenn ich angekommen bin“, erklärte Sergej mit sanfter Stimme.
„Das ist eine so furchtbar weite Reise“, schüttelte sie ungläubig den Kopf. Ihre Hände waren eiskalt und hingen reglos in den seinen. Sie wusste nicht mehr, was sie sagen sollte. Die Hoffnung, ihn doch noch zum Bleiben überreden zu können, wich mit jeder Sekunde.
„Ich komme wieder, das verspreche ich ganz fest. Wir werden uns wiedersehen“, flüsterte er.
„Bleib bei mir. Bitte.“, hauchte sie kaum hörbar und biss sich schmerzhaft auf die Unterlippe, während sie den Kopf hängen ließ.
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