Elysium Roman 5 – Kapitel 11: Cyberspace
October 27, 2023
„Siehst du das auch? Kannst du sehen, was ich sehe?“, fragte Yanny hinaus in die Einsamkeit des Waldes. Über dem Boden waberte gespenstisch anmutender Nebel und diffuses bläuliches Licht durchdrang die sie dicht umgebenden Bäume. Der Ort hatte sich stark verändert seit ihrem letzten Besuch hier im Cyberspace. Die Simulation war immer noch geradezu perfekt. Allerdings hatte sie nicht erwartet, dass die Anforderung der gewünschten Umgebung mit den völlig gleichen Parametern nun ein derart abweichendes Ergebnis hervorbringen konnte.
„Ja, ich kann es sehen. Das ist einfach unglaublich, es sieht alles absolut real aus“, hörte Yanny die leise Stimme Abigails in ihrem Kopf. Der Körper des Cyborgs saß auf einem Bürostuhl im Arbeitszimmer und schien ins Leere zu starren. Einzig ihr linkes Ohr war noch auf Aufnahme eingestellt, die restlichen Sinne jedoch durch den Datenstrom blockiert, den sie gerade eben aus den Weiten des Netzes erhielt. In ihrem Hinterkopf steckte das Verbindungskabel zu dem Rechner, den sie auf der Sea Lord erbeutet hatten. An diesem waren außerdem noch zwei Bildschirme und diverse Eingabegeräte angeschlossen, vor denen Abigail saß. Der Blick der Computerspezialistin hing gebannt auf den Bildschirmen, die ihr in Echtzeit anzeigten was Yanny im Cyberspace sah. Da sowohl Yanny als auch der Computer aus der gleichen Technologie bestanden, ergab sich die Möglichkeit einer reibungslosen Direktübertragung.
„Echt Wahnsinn, oder? Nur der Wald sah um einiges freundlicher aus bei meinem letzten Besuch“, meinte Yanny. Dann kniete sie sich nieder und grub eine Hand in den feuchten Boden. Es knisterte leicht und blaue Funken umspielten ihre Finger, als sie in die Erde drangen.
„Inwiefern freundlicher?“, fragte Abigail und beobachtete gebannt das Spiel der Lichter.
„Die Simulation erschuf einen schönen Sommertag. Das hier sieht hingegen eher aus wie aus einem dieser schlecht gemachten Gruselfilme, die immer spät nachts auf den Privatsendern laufen“, erwiderte Yanny und zog einen Klumpen Erde aus dem Boden. Für eine Sekunde war in dem Loch, das ihre Hand hinterließ ein bläuliches Raster zu sehen. Wenige Augenblicke später wurde das Raster jedoch unsichtbar. „Die Welt scheint insgesamt nicht so stabil zu sein. Oder etwas stimmt mit der Verbindungsgeschwindigkeit nicht, kann ich noch nicht genau sagen.“
„Firewall mittlere Sicherheit“, ertönte die Stimme der Systemüberwachung, genau wie beim letzten Aufenthalt in der Simulation.
„Yanny, was hat das zu bedeuten“, fragte Abigail überrascht, die die Stimme über die kleinen Lautsprecher auf dem Arbeitstisch ebenfalls hören konnte.
„Ich verstehe es ehrlich gesagt nicht“, antwortete Yanny und ließ den Erdklumpen aus ihrer Hand zu Boden fallen. „Könntest du versuchen, das Zusatzprogramm…“
„Firewall deaktiviert“, meldete die Systemüberwachung. Abigail begann wie wild auf die Tastatur einzuhacken und versuchte herauszufinden, warum sich die Firewall anscheinend von selbst abschaltete. Sie fand jedoch keine Ursache hierfür.
„Yanny, irgendetwas stimmt hier nicht. Vielleicht solltest du wieder aus dem Cyberspace herausspringen“, murmelte die Computerspezialistin nervös.
„Wenn ich jetzt abbreche, werden wir nie erfahren was hier los ist“, erklärte Yanny ruhig und sah sich weiter um. Manche der Bäume begannen leicht zu flimmern und für Sekundenbruchteile ihre Farben zu verändern. Sie streckte ihre Hand auf einen dieser Bäume zu, versuchte seinen Stamm zu berühren. Ihre Finger glitten widerstandslos durch die Rinde. Als sie ihre Hand zurückzog, war diese voller brauner, flüssiger Farbe.
„Nein, besser nicht. Begib dich nicht in Gefahr wegen so etwas“, widersprach Abigail, deren wilde Tippgeräusche bis an Yannys Ohr drangen.
„Komplett instabil…“, stellte Yanny fest, als sie die braune Farbe betrachtete, die langsam von ihren Fingern tropfte. „Keine Sorge Aby, mir kann eigentlich nichts passieren. Ich kann hier drin keinen Schaden nehmen. Vergiss nicht, wenn mein System gekoppelt ist bin ich sozusagen Teil von…“, weiter kam sie nicht. Mehrere dicke Wurzelstränge gruben sich mit geradezu absonderlicher Geschwindigkeit aus dem Waldboden und umwickelten ihre Füße und Waden, sodass sie sich nicht mehr vom Fleck bewegen konnte.
„Yanny! Komm da sofort raus!“, schrie Abigail jetzt erschrocken, da sie immer noch durch die Überwachungsbildschirme in Echtzeit mitverfolgen konnte, was in der Simulation geschah.
„Nein…“, entgegnete Yanny weiterhin ruhig. „Wer immer das zu verantworten hat, versucht nur mich ein wenig einzuschüchtern. Mach dir keine Sorgen.“ Der Chip in ihrem Kopf begann augenblicklich, die Rechenleistung weiter hochzufahren und zu vervielfachen. Ein unsichtbarer Strom tausender gleichzeitiger Abfragen ging nun von ihr selbst hinaus in den Cyberspace und durchbrach die Struktur des Netzes an vielen Stellen, die ihren Dekodierungsversuchen nicht standhalten konnten.
„Was machst du da?!“, hörte sie Abigails Stimme wieder an ihr Ohr dringen, sie klingt jetzt noch ferner. „Ich kann den Eingaben nicht mehr folgen, der Bildschirm flackert nur noch so vor Codes!“ Es stimmte, sie musste ihre Augen von dem geöffneten Programmierfenster nehmen. Kein Mensch konnte bei dieser Menge an Informationen mitlesen.
„Ich bin drin“, gab Yanny schließlich zurück. Ihr Geist war nunmehr mit der Umgebung verschmolzen, das Netz ihrer Gedanken eins geworden mit der Simulation. Sie konzentrierte sich und ließ eine zarte blaue Blume vor sich aus dem Waldboden wachsen. „Hübsch, nicht wahr?“, sagte sie lächelnd und ging langsam in die Hocke, um Abigail die Blume besser zeigen zu können. Gleichzeitig zogen sich die Wurzelranken, die bis jetzt immer noch um ihre Beine geschlungen waren, wieder in die Erde zurück.
„Hast du sie wachsen lassen?“
„Ja, sie…“, weiter kam Yanny in ihrem Satz nicht und wurde erneut unterbrochen. Ein mächtiger Stiefel zertrat die Blume vor ihr, begrub sie unter seiner schweren Sohle. Der Cyborg sah nach oben und erblickte einen Mann in schwarzer Uniform vor sich, der mit seelenlosen Augen auf sie herunter starrte.
„Das reicht jetzt, ich hole dich da raus!“, schrie Abigail. Yanny erhob sich langsam. Dieser unheimliche Soldat mit einer Haut die aussah wie eine Silikonschicht, überragte sie auch im Stehen noch um fast zwei Haupteslängen.
„Nein“, widersprach sie. Erneut schossen dicke Wurzelranken aus dem Boden, umwickelten diesmal jedoch die Beine des Soldaten, wickelten sich höher und höher, umschlangen seine Hüfte, seinen Brustkorb, drangen weiter und weiter vor. Er versuchte sich zu bewegen und sich von dieser überraschenden Umklammerung zu befreien, jedoch ohne Chance. „Hab ich dich“, flüsterte Yanny, legte den Kopf leicht schief und lächelte.
„Was geschieht da?“, schnaufte Abigail, die drauf und dran war das Verbindungskabel aus Yannys Kopf zu ziehen. „Wer ist das?“
„Das werden wir gleich herausfinden“, erwiderte Yanny sanft. Die Wurzelranken wuchsen noch weiter, umschlangen seinen Hals, drangen schließlich sogar in den Mund und die Ohren des Soldaten ein, erreichten sein Gehirn.
Die Abendsonne erhellte den großen Besprechungsraum in der Villa vorerst noch ausreichend und es war nicht notwendig, das Licht anzuschalten. Yanny stand am Fenster und sah auf die ruhige See hinaus, deren Oberfläche golden glitzerte. Die meisten Luxusyachten lagen um diese Zeit bereits vor Anker und auf dem Nordstrand Boulevard herrschte – wie zu fast jeder Tageszeit – geschäftiges Treiben. Abigail stand vor einem dreibeinigen Flipchart und hatte einen dicken Filzstift in der Hand, während Yuri, Harry und Ralph sich an den großen Tisch gesetzt hatten. Die drei Männer konnten die Anspannung spüren, die sich von Anfang an in dem Raum breitgemacht hatte. Selbst Ralph war aufgrund der allgemeinen Stimmung ernst bei der Sache. Er hatte den ganzen Tag begeistert mit seinem neuen Aufsitzmäher im Garten zugebracht und war gerade vorhin erst aus der Dusche gekommen. Dementsprechend war er noch in seinen roten Bademantel mit der silbernen >Punk will never die< Aufschrift auf dem Rücken gekleidet. Als Hausschuhe trug er übergroße grüne Plüsch-Monsterfüße mit stilisierten braunen Lederkrallen, die seine ohnehin exzentrische Erscheinung abrundeten. „Also, was los ist?“, durchbrach Yuri das anfängliche Schweigen und rückte dann seinen Stuhl etwas nach hinten, um seine langen Beine übereinander schlagen und eine bequemere Sitzposition einnehmen zu können. „Wie ihr wisst haben Yanny und ich in der letzten Zeit einige Experimente mit dem Computer durchgeführt, den wir auf der Sea Lord gest… äh… sichergestellt haben. Dieses Interface, das einen Zugang zum DarkWeb des Teletextnetzes erlaubt. Wir sind da im Netz auf ein paar sehr unangenehme Dinge gestoßen“, erklärte Abigail. „Inwiefern unangenehm?“, fragte Harry und schaute hinüber zu Yanny, die noch immer wortlos am Fenster stand. Sie schien in diesen Momenten sonderbar geistig abwesend zu sein. Ein Zustand, den er so noch nie bei ihr beobachtet hatte. „Du kannst das wahrscheinlich besser erklären als ich, Yanny“, sagte Abigail und räusperte sich, um das Wort an den Cyborg weiterzugeben. “Sagt euch der Name Lazarus von Bethanien etwas?“, durchbrach die junge Frau schließlich ihr Schweigen. Als die anderen verneinten, fuhr sie fort. „Er wurde laut einem der Evangelien vom Messias von den Toten auferweckt und später dann auf der Erde, der uralten Wiege der Menschheit von mehreren Kirchen als Heiliger verehrt. Der Sage nach ist er also der erste Mensch, der von den Toten wieder auferstanden ist.“ „Inwiefern steht diese Sage in Verbindung mit euren Experimenten?“, hakte Harry nach. „>Lazarus< ist auch der Name eines geheimen Projekts der PZN, der >Partei Zukunft Nordlande<“, fuhr Yanny fort und Yuri merkte sofort auf. Die Partei war einer der vielen Gründe, warum er den Norden damals verlassen und aus seiner Militäreinheit desertiert war. Er hatte allerdings nicht damit gerechnet, nun in diesem Zusammenhang erneut von ihr zu hören. „Ein jeheimes Projekt, das nach einem Heilijen aus einer uralten Sage benannt ist?“ Ralph kratze sich am Kopf und versuchte, die aufkommende Trockenheit in seinem Mund nicht zu beachten. Yanny nickte. “Die PZN hat mit zwei staatlichen Unternehmen zusammen an diesem Projekt gearbeitet, einem der größten dortigen Energieversorger und einem Technologieunternehmen für Fertigungsroboter.“ „So eine ähnliche Kombination kommt mir bekannt vor“, entgegnete Harry und musterte Yanny, die erneut nickte. „Beides sind Unternehmen aus Yuris Heimatstadt Utopia. Das Technologieunternehmen hat wohl bereits vor der Übernahme durch die PZN im Bereich der Forschung an humanoiden Robotern mit Taiyō Electrics zusammengearbeitet. Wie die Verbindung zu dem japanischen Unternehmen zustande kam, konnte ich jedoch nicht herausfinden. Allerdings waren sie nicht in der Lage die passenden Ergebnisse zu liefern, bis der Durchbruch dann bei einem anderen Unternehmen, bei CROWTECH geschah, die… mich gebaut haben“, erklärte Yanny. „Ja, es sind ein paar mehr Puzzleteile zum Gesamtbild“, merkte Abigail an. „Taiyō stand durch die Verknüpfung mit der PZN dermaßen unter Druck, dass sie unseren lieben Prototypen hier von CROWTECH haben stehlen lassen“, fuhr sie fort und machte dabei eine kurze Handbewegung gen Yanny. „Druck können sie, das richtig ist“, bestätigte Yuri. „Und wir haben deren Plan durcheinander gebracht, indem wir dich aus dem Labor befreit haben“, überlegte Harry. „Exakt“, meinte Yanny und sah wieder zum Fenster hinaus. Die Sonne ging nun schnell unter, bald würde es in dem Besprechungsraum dunkel sein. „Das hat die PZN jedoch nicht aufgehalten, >Lazarus< doch noch zu verwirklichen. Natürlich haben auch die Nordstädte noch Reste alter Technologie in ihrem Besitz. Niemand kann wirklich sagen, wie es in den anderen Städten mit der Menge an verbleibender alter Technologie aussieht. Die Aufteilung dieses Planeten zwischen den Siedlerschiffen hat vor mehr als 400 Jahren stattgefunden. Wer weiß schon wie viel für welche Bauwerke verwendet, wie viel ausgeschlachtet wurde und wie viel über die Zeit hinweg unwiederbringlich zerstört worden ist.“ „Was bedeutet in diesem Fall?“, Yuri nickte und wirkte nun ebenfalls gedankenversunken. Er kämpfte offensichtlich mit ein paar längst verdrängten Erinnerungen. „Sie haben einen eigenen Cyborg gebaut, der ebenfalls aus dem gleichen Metall besteht wie ich. Betrieben wird der Körper durch drei Minireaktoren, die in seiner Brust sitzen. Zum Vergleich: ich wurde für Infiltrationseinsätze gebaut und habe nur einen einzigen Reaktor als Energieversorgung. Lazarus hingegen wurde für Fronteinsätze im Krieg konzipiert. Mit dreimal so viel Energie ist er natürlich auch viel ausdauernder. Er hat durch seinen Körperbau etwa 250% mehr Körperkraft, unter anderem durch eine verstärkte Hydraulik. Er müsste in der Lage sein, Löcher in eine Ziegelmauer zu schlagen ohne dabei selbst Schaden zu nehmen oder ein ganzes Auto umzuwerfen. Allerdings hat er kein menschliches Fleisch über seinem Skelett, so wie ich. Aus der Nähe ist er damit schnell zu identifizieren. Um diese Technik und Rezeptur erforschen zu können, hatte Taiyō nicht mehr genug Zeit. Und es mangelt ihm noch an einer weiteren Sache…“, führte Yanny weiter aus. „Und die wäre?“, fragte Harry, dessen Blick sich bei ihrer Beschreibung deutlich verfinstert hatte. Das alles waren keine guten Nachrichten. „Der Chip in meinem Kopf, die zentrale Recheneinheit“, sie tippte sich dabei an die Schläfe. „Von diesen Chips existieren wohl kaum noch Exemplare. Sie haben den Chip stattdessen mit zwei anderen Dingen ersetzt. Zum einen ein anderer Chip, der jedoch nicht annähernd so leistungsstark ist wie mein eigener. Über die Verbindung im Cyberspace habe ich ihn, beziehungsweise seine Seriennummer wiedererkannt“, erklärte Yanny. „Du hast ihn wiedererkannt?“, fragte Ralph verblüfft nach, der bis jetzt still gewesen war. „Mein eigener Chip war, wie ihr bereits wisst, die Recheneinheit in dem Siedlerschiff, das die Grundlage für Elysium war. Das Schiff hatte jedoch einen weiteren Prozessor, der für die Waffensysteme zuständig war. Die Lebenserhaltungssysteme für mehrere tausend Menschen und das Steuern durchs All haben so viel Rechenleistung gekostet, dass die Waffensysteme vorsichtshalber an einen zweiten Prozessor ausgelagert worden waren. Wie das Teil nach Utopia gelangt ist, lässt sich nur spekulieren. Wahrscheinlich durch eine bezahlte Runnergruppe.“ „Moment… aber würde das nicht bedeuten, dass du und… er…“, warf Harry ein. „Ja, wir sind auf verschiedenen Ebenen miteinander verwandt, wenn man das so sagen kann. Es ist wohl so, dass ich mit ihm noch einen Bruder habe.“ Die Männer sahen Yanny fassungslos an. „Bei meinem ersten Besuch im DarkNet, im Cyberspace, konnte ich ihn bereits fühlen. Wir teilen uns die gleiche Technologie und den gleichen Aufbau, der für die Entwicklung unseres Denkens notwendig ist und der aus seiner ursprünglichen Funktion herausgehoben und schließlich getrennt wurde. Er und ich, wir sind zwei Teile eines Ganzen. Es bedarf enormer Rechenleistung auf kleinstem Raum, damit ich als Person mit eigenem Denken überhaupt existieren kann. Sein Chip hingegen ist weniger leistungsfähig, was sozusagen zwei weitere Krücken in seiner Konstruktion notwendig gemacht hat.“ „Und die wären?“, Harry rieb sich den Nasenrücken und versuchte, die Tragweite des Gehörten abzuschätzen. „Einen Bruder zu haben ist generell nichts Schlimmes… oder könnte es vielleicht sein, dass…“ „Du denkst richtig. Lazarus ist das, was ich hätte sein sollen. Wir beide wurden als Killermaschinen gebaut. Ich bin die Erstgeborene, bei mir ist in dieser Hinsicht alles schief gelaufen. Ich habe mich meiner Bestimmung widersetzt, konnte meinen eigenen Willen entwickeln und war allen Versuchen der Umerziehung gegenüber resistent. Bei Lazarus haben sie dieses Problem nicht, weil sie ihm zusätzlich das Gehirn und das Herz eines Soldaten eingebaut haben, der bei einem Kampfeinsatz gefallen ist. Sein Nachname war Gromow. Über seine Akte konnte ich nur so viel herausfinden, als dass er bei allen seinen Einsätzen höchst brutal vorgegangen ist. Ein Fanatiker. Ein echter… Psychopath. Anscheinend wurde das Gehirn aber bei der Transplantation etwas beschädigt, was ihn damit noch unberechenbarer macht“, erklärte Yanny. „Das doch Schwachsinn ist“, warf Yuri ein. „Was die wollen mit einer solchen mächtigen Killermaschine, von der keiner kann wissen ob Befehle wirklich ausführt nach Plan?“ „Hier kommt die zweite Krücke ins Spiel“, nickte Yanny ihm zu. „Es bedarf zusätzlich noch einer Fernsteuerung, die ihn auf Kurs hält und mögliche >Ausraster< oder Befehlsverweigerungen korrigiert. Wie das genau funktioniert und wo sie zu finden ist, ist mir noch nicht bekannt. Das müssen wir erst genauer untersuchen.“ Abigail seufzte tief hinter ihr. Es war klar, dass sie hierfür einmal mehr im DarkNet nach weiteren Informationen stöbern mussten. Ein Risiko.
„Warum dann überhaupt das transplantierte Gehirn? Wären sie nicht besser bedient gewesen mit der Fernsteuerung alleine?“, entgegnete Harry.
„Nein. Durch die Fernsteuerung kommt immer auch eine Verzögerung zustande. Lazarus braucht in gewissem Maße einen Verstand, um in einem Einsatz schnell auf verschiedene Situationen reagieren zu können. Das wäre anders nicht zu schaffen, die Rechenleistung hat er nicht. Für einzelne Verhaltenskorrekturen reicht die Fernsteuerung aber allemal.“
„Gut, es gibt also diesen Super-Soldaten, der von der PZN gesteuert werden kann. Das sind keine guten Nachrichten. Aber inwiefern betrifft uns das?“, fragte Harry nach.
„Sie wollen ihn einem Härtetest unterziehen. Sie wollen sehen, was er im Ernstfall zu leisten fähig ist“, erläuterte Yanny langsam.
„Okay… inwiefern?“ Harry musterte ihre Reaktion genau.
„Er ist bereits auf dem Weg in den Süden. Sie wollen ihn hier in die Stadt einschleusen und er soll systemrelevante Ziele zerstören. Höchstwahrscheinlich Dinge wie die Wasserversorgung, Energieversorgung, Zentralrechner und so weiter… zuschlagen und abtauchen, immer wieder. Also alles, mit dem man eine ganze Stadt ins Chaos stürzen kann. Wenn er dabei auf Widerstand trifft, wird das der Partei darüber hinaus nur brauchbare Daten über seine Kampfkraft liefern.“ Yanny sprach ruhig, kontrolliert und doch schwang eine gewisse Niedergeschlagenheit in ihren Worten mit.
„Und da bist du dir janz sicher?“, warf Ralph ein.
„Kein Zweifel“, nickte sie. „Angenommen es gelingt ihnen, mit nur einem einzigen Soldaten eine ganze Stadt sturmreif zu schießen, hätte eine darauf folgende Besatzungsarmee anschließend leichtes Spiel.“
„Ja“, bestätigte Yuri brummend und fuhr sich über die Glatze. „Seit Partei hat Kontrolle, sie haben Pläne gemacht für Expansion. Ist immer dasselbe. Zu viele Leute haben nicht mal was zu Essen aber Politiker machen alle anderen dafür verantwortlich und wollen noch mehr Macht. Propaganda überall. Von einfache Leute, niemand will Krieg, sind froh wenn Gemüse wächst im kalten Boden.“
„Scheiße…“, seufzte Harry. „Ähm… dann geben wir die Info an die Polizei raus und…“ Yanny betrachtete ihre Hand während er sprach. Die Erinnerungen an ihre Reparatur wurden wach. Ihre Hand bestand nur noch aus gehärtetem Stahl und nicht aus dem geheimnisvollen Metall, aus dem ihr restliches Skelett gefertigt war.
„Nein“, entgegnete sie leise. „Wir müssen einen anderen Weg einschlagen. Die Polizei ist immer noch mit der Crawlersache beschäftigt und ansonsten schon überlastet. Und was würde das bringen, außer einem Haufen Toter? Sie werden ihn vielleicht irgendwann aufhalten können, aber nur unter größten menschlichen Verlusten.“
„Worauf willst du hinaus?“, brummte Yuri mit seinem tiefen Bass.
„Er weiß durch die Begegnung mit mir im Netz außerdem, dass ich existiere und funktioniere. Oder besser gesagt, die Partei weiß es damit auch. Meine Vernichtung steht nunmehr ebenfalls auf der Agenda“, erklärte sie weiter. Abigail presste die Lippen aufeinander und drehte nervös den Tafelstift zwischen den Fingern. Harry sog die Luft scharf ein.
„Aber wenn ihn die Polizei nicht aufhalten können wird… wir können es auch nicht! Dann verstecken wir dich hier einfach. Du gehst nicht mehr online, dann kann er dich nicht orten? Oder? Ist es nicht so?“ Harrys Stimme wurde lauter und er tippte hart mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte. Yannys Silhouette zeichnete sich im schwachen Restlicht der untergehenden Sonne ab. Sie sah ihm in die Augen. Momente vergingen. Er schwieg.
„Harry…“, sprach sie leise.
„Ja…?“
„Es stimmt. Die Polizei wird ihn nicht aufhalten können. Und ihr werdet ihn ebenfalls nicht aufhalten können…“ Ihre Stimme war immer noch leise, sanft. „Aber ich hingegen habe eine Chance.“ Yuri schlug mit der Faust auf den Tisch, der daraufhin erzitterte.
„Das ist nicht dein Ernst! Wie soll das gehen? Du kannst nicht mal Waffen benutzen!“, polterte der massige Hüne, dem diese Idee, genau wie den beiden anderen Männern sichtlich missfiel. Ralph wollte ebenfalls zu einer Erwiderung ansetzen, hielt aber inne, stand auf und holte eine Whiskeyflasche und ein paar Gläser aus der Minibar in der Schrankwand. Wenn jetzt kam was er vermutete, würden sie alle einen kräftigen Schluck brauchen. Er hatte recht.
„Ich bin die einzige, die überhaupt eine Chance gegen ihn hat. Ich bin schneller, stärker und treffsicherer als ihr. Und ich kann mehr Schläge einstecken…“, erklärte Yanny ruhig. Zur Überraschung der anderen war es Abigail, die sich die Flasche nahm und das erste Glas Whiskey einschenkte.
„Ich habe bereits versucht, sie von diesem komplett bescheuerten Plan abzubringen. Wartet nur ab, es kommt noch besser“, fügte Abigail an.
„Der Plan ist nicht bescheuert“, erwiderte Yanny mit einem leicht beleidigten Unterton.
„Mädel“, sagte Ralph. „Nach allem was du erzählt hast, wird dich der Typ zu Hackfleisch verarbeiten. Det kannste nicht machen, det is Selbstmord.“ Dann nahm er einen ausgiebigen Schluck aus seinem Glas, das ihm Abigail zuvor wortlos zugeschoben hatte.
„Er hat recht, du kannst nicht mal kämpfen!“, Yuri war außer sich. Harry schwieg mit finsterer Miene. Seine Gedanken rasten.
„Das stimmt. Ich habe meine Kampffertigkeiten in meiner Programmierung deaktiviert und ich kann sie selbst nicht mehr reaktivieren. Ich habe sie verriegelt und den Dekodierungsschlüssel gelöscht. Ihr aber könntet diese Fähigkeiten reaktivieren und mir zurückgeben, für diese Aktion braucht es einen Eingriff von Außen. Wenn ich Waffen verwenden kann, kann ich kämpfen.“ Die Männer starrten sie ungläubig an.
„Wie soll das funktionieren?“, blaffte Harry mit leicht schroffem Ton. Er konnte sich keinesfalls mit dem Gedanken anfreunden, dass sie sich in Gefahr begeben wollte. Noch dazu gegen einen solchen Gegner. Während Yanny daraufhin mit ihrer Erklärung begann, skizzierte Abigail verschiedene Punkte der technischen Details auf dem Flipchart, um sie für die anderen zu verdeutlichen.
„Wir haben den Rechner aus alter Technologie mittlerweile vollständig unter Kontrolle. Ich habe euch ja bereits erklärt, in welcher Form man sich durch das Darkweb hacken kann. Die Interfacefunktion kann man aber auch auf andere Systeme anwenden.“ Sie deutete auf die Datenbuchse an ihrem Hinterkopf. „Auf mich zum Beispiel.“
„Wat?“ Ralph nahm erneut einen großen Schluck.
„Wir verbinden uns alle mit dem Interface und ihr hackt euch auf diese Weise in mein Gehirn und löst die Verschlüsselung meines Kampfareals“, präzisierte Yanny.
„Aber wie?“ Yuris Augen verengten sich zu Schlitzen und er betrachtete sie skeptisch.
„Ihr braucht ebenfalls Datenbuchsen. Das ist ein verhältnismäßig kleiner Eingriff, bei dem euch ein Datenkabeleingang in den Hinterkopf eingebaut und mit eurem Gehirn verbunden wird. Man wird ihn unter den Haaren nicht sehen können.“
„Ahja“, gab Yuri zurück und fuhr sich mit der Hand über die Glatze, was Yanny kurz zum Lachen brachte und die Stimmung etwas aufheiterte. Nur Harrys Gesicht blieb weiterhin wie versteinert.
„Das geht auf gar keinen Fall, du wirst dich diesem Killer nicht stellen“, knurrte er schließlich. Sie schüttelte daraufhin nur sachte den Kopf.
„Menschen werden sterben wenn ich es nicht versuche. Unschuldige. Viele. Wir können nicht zulassen, dass er die Stadt verwüstet“, entgegnete sie und versuchte, ihn vorsichtig und mit sanfter Stimme von diesem Vorhaben zu überzeugen. Harry hingegen erhob sich von seinem Stuhl und verließ wortlos den Raum. Er kochte innerlich, war entgegen seines jahrelangen Trainings, entgegen seiner normalerweise so kontrollierten und bedächtigen Art in diesem Moment nicht mehr in der Lage, einen brauchbaren Gedanken zu fassen. Sie mochte recht haben mit dem was sie sagte und doch… Er brauchte frische Luft. Jetzt. Alle sahen ihm nach und für einige Momente herrschte ratloses Schweigen. Der letzte Teil der Sonne versank am Horizont, es war dunkel.
„Harry…“, sagte Yanny leise, als sie auf die offene Türe blickte, durch die er eben den Raum verlassen hatte.
„Gib dem Jungen ein paar Minuten, Kleine. Der kommt schon wieder, muss nur kurz Dampf ablassen“, meinte Ralph und führte das Whiskeyglas langsam zum Mund. Der alte Haudegen hatte schon seit Längerem erkannt, was sich der ehemalige Straßensamurai anscheinend selbst nicht eingestehen wollte.
Die Reihe wird fortgesetzt mit dem Titel:
Datenstrom
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