Elysium Roman 6 – Kapitel 3: Lies meine Gedanken
November 17, 2023
Die Möbel des Computerraums im Obergeschoss der Villa waren umgestellt worden. In der Mitte des Raums standen nun vier der fein säuberlich geputzten Gartenliegen, überzogen mit in knalligem Rot gehaltenen, weichen Auflagen. Sie alle waren an ihren Kopfteilen mit Kabeln versehen. Diese Kabel führten in den roten Hochleistungsrechner, das Interface. Die TRAP-Agenten hatten sich fast vollzählig in dem Raum versammelt. Harry, Abigail und Yuri nippten noch an ihren sauer schmeckenden Vitamincocktails. Yanny hatte darauf bestanden, dass die drei diese Flüssigkeit vor dem Einsatz zu sich nahmen. Schließlich konnte man nicht wissen wie lange genau die folgende Prozedur dauern würde und wie viel Zeit die Kameraden regungslos auf den Liegen verbringen würden. Eines war allerdings klar: sie durfte nicht länger als drei Tage dauern. Drei Tage waren für den Aufenthalt im Cyberspace das absolute Maximum. Alles was darüber hinausging, würde eine zu lange Regenerationsphase in der Realität nach sich ziehen und das konnten sie sich nicht leisten.
„Wenn wir uns sozusagen in deinem Gehirn befinden, wie wird das sein? Was erwartet uns dort genau? Ich kenne diese Waldsimulation in der du dich befunden hast, aber wie sieht deine eigene >Gedankenwelt< aus?“, fragte Abigail gen Yanny. „Das visuelle Surfen durch das Teletextinternet, egal ob oberflächlich oder im weitreichend verschlüsselten DarkWeb, ist in aller Regel nach eigenen Wünschen formbar. Ein neutraler Ort also, der die Illusion einer jeden Welt erschaffen kann die man sich wünscht. Es handelt sich dabei tatsächlich nur um eine reine Darstellungssprache, die vorhandene Informationen aus dem Netz interpretiert. In der Simulation kann ein Hindernis als eine Schlucht oder ein Zaun dargestellt werden, der Vorgang der Überwindung des Hindernisses als Darüberklettern oder Darüberspringen vollzogen werden. Der Rahmen der dargestellten Welten bleibt in aller Regel in sich stimmig. Mein eigenes Gehirn, meine eigene Gedankenwelt unterscheidet sich jedoch in einem Punkt von den großen Netzwerken…“, erklärte Yanny ausschweifend. „Ja? Inwiefern?“, hakte Abigail nach und alle sahen den Cyborg gespannt an. „Die Frage nach meiner Gedankenwelt hat den Nagel bereits auf den Kopf getroffen. Wenn ihr mit mir verbunden seid, wird diese Welt nicht nach euren Vorstellungen – also den Usern – gestaltet werden können, sondern nach den meinen. Es sind meine Tagträume, in denen ihr euch befinden werdet“, erwiderte Yanny mit etwas leiserer Stimme und spielte mit ihren Fingern. Es hatte den Anschein, als geriete sie leicht in Verlegenheit. Die anderen schauten sie immer noch erwartungsvoll an. „Tagträume?“, brummte Yuri. „Jetzt schaut mich nicht so an. Ihr wisst doch, dass ich totaler Fan von der Serie >Heroes of Ulthrard< bin…“, erwiderte sie noch ein Stück leiser. „Du hast wirklich Tagträume, die sich um diese Zeichentrickserie drehen?“, fragte Harry überrascht nach. Natürlich hatten sie alle mitbekommen, wie sehr der Cyborg diese Reihe liebte und keine Folge davon im Fernsehen verpasste. Die dazugehörigen Actionfiguren sammelte sie schon eine ganze Weile, seit ihr Ralph die erste davon, den Helden >Caine Powerheart< von Dr. Niclas Iwanow, dem Spezialisten für alte Sprachen an der Universität, abgekauft hatte. „Mh-hm“, machte Yanny knapp und nickte, warf dabei Yuri einen eindringlichen Blick zu. Er hatte sie erst vor Kurzem dabei überrascht, wie sie in ihrem Zimmer bei offener Türe mit den Figuren gespielt hatte. Die ganze Sache war ihr immer noch äußerst peinlich. Yuri behielt sein Pokerface bei und verlor kein Wort über den Vorfall. Gewundert hatte es ihn nicht, schien sie doch mehrere Entwicklungsstadien gleichzeitig zu durchlaufen und permanent dazuzulernen. War es da nicht auch vollkommen normal, wenn sie einmal mit Puppen spielte? Man konnte sich mit ihr über philosophische Fragen unterhalten und eine halbe Stunde später sprang sie begeistert auf und ab, wenn Ralph eine neue Limonadensorte vom Supermarkt mitbrachte. „Gut, also wir werden kommen in Fantasywelt von Ulthrard und was machen dann?“, fragte Yuri betont gelassen. „Das definierte Ziel ist ja, die Blockade zu meinen Kampffähigkeiten aufzuheben. Wie das jedoch genau aussehen wird, kann ich nicht sagen. Die Blockade befindet sich in einem Bereich, der mir selbst nicht zugänglich ist, nicht steuerbar – also ganz gut vergleichbar mit dem menschlichen Unterbewusstsein. Demnach ist die Blockade vielleicht etwas Symbolisches, wie bei den Träumen von Menschen“, führte Yanny aus. „Also etwa wenn man in einem Traum eine Spinne sieht, dann ist das angeblich ein Zeichen für Kreativität? Geht es in diese Richtung?“, meinte Abigail. Sie hielt nicht viel von diesen starren Deutungen. War die Psyche nicht viel zu komplex um sie auf so einfache Gleichungen reduzieren zu können? „Ja, das könnte zumindest ein Lösungsansatz sein“, nickte Yanny. „Und ich wollte noch hinzufügen: ich werde euch zwar bei eurer Reise beobachten aber nichts beeinflussen können. Wir werden nicht miteinander kommunizieren können.“ „Noch irgendetwas zu beachten?“, fragte Harry. Er hatte sich in den letzten Wochen ein paar Folgen ihrer Lieblingsserie mit ihr angesehen und wusste ungefähr, worum es ging. Die Tatsache, dass Yanny eben selbst nicht wusste wonach sie in dieser Welt konkret suchen sollten, machte das Unterfangen nicht einfacher. „Ja. Ihr dürft keinesfalls vergessen, dass die Gefahren im Cyberspace trotz allem für euch real sind. Sterbt ihr dort, nimmt euer Gehirn während der direkten Verbindung zum Interface durch eine vollständige Reizüberlastung einen irreparablen Schaden. Dieses Risiko lässt sich für Menschen bei der Verknüpfung eines solch hochsensiblen Organs mit einer Maschine nicht umgehen. Manche Hacker haben ihre Aufträge deswegen bereits mit dem Leben bezahlt“, wies sie die Gruppe nochmals auf das wichtigste Detail von allen hin. „Solltet ihr hingegen >nur< schwer verletzt werden, könnt ihr euch immer noch selbst aus der Simulation trennen, jedoch nicht mehr in den laufenden Vorgang zurückspringen“. Yuri fuhr sich über den Bart und überlegte, während Abigail lautstark und mit schmalen Lippen an ihrem Getränk schlürfte. Die Computerspezialistin versuchte nicht allzu viel über diesen schlimmsten aller anzunehmenden Fälle nachzudenken. Sie riskierten einmal mehr ihr Leben und das nicht mal für viel Geld. Sie taten es für eine Chance diese Stadt zu retten – schon wieder. Abigail hielt sich die Nase zu und kippte sich den Rest des sauren Saftes in den Mund. Wenn das alles vorbei war und sie Yuri ganz lieb fragte, würde er den Bürgermeister vielleicht dazu zwingen eine Bronzestatue von ihr im Stadtpark für eine angemessene Huldigung aufstellen zu lassen?
„Wie viele Versuche haben wir?“, bohrte Harry nach.
„Einen einzigen“, meinte Yanny wie selbstverständlich. „Ein angegriffenes System wird sich anders aufstellen, sobald es einen Angriff identifiziert und erfolgreich abgewehrt hat. Mein Unterbewusstsein wird sich davon nicht substantiell unterscheiden. Wenn es die Sicherheitsvorkehrungen danach hochschraubt, wird es nicht nur sehr viel gefährlicher bei einem zweiten Versuch, dann wird uns obendrein auch die Zeit ausgehen.“
„Sie hat recht. Es kann nicht mehr lange dauern, bis der Cyborg von Projekt Lazarus Elysium erreicht hat…“, gab ihr Abigail recht und wischte sich die Mundwinkel sauber. Harry atmete tief durch. Das alles gefiel ihm nach wie vor nicht, aber was hatten sie letztendlich für eine Wahl?
„Okay, dann lasst uns nicht noch mehr Zeit verlieren. Ab auf die Liegen“, meinte er.
„Janz meine Meinung“, polterte Ralph von hinten, stapfte breitbeinig in den Raum und baute sich mit breiter Brust vor der versammelten Gruppe auf. Bekleidet war er in voller Ledermontur und Ketten, in der Hand eine Schrotflinte. Sogar einen vollen Patronengürtel hatte er umgehängt.
„Ziehst du in den Krieg?“, fragte Abigail mit hochgezogenen Augenbrauen?
„Naja, Madame hat gesagt ick soll euch beschützen während ihr hier schlafend rumliegt“, erklärte der alte Punk lautstark und nickte dabei gen Yanny. „Und das mach ick natürlich. Wenn sich auch nur jemand in die Nähe der Villa begibt, blas ick ihm seinen beschissenen Schädel weg.“
„Heute Abend oder morgen Früh bekomme ich noch ein Päckchen mit leeren Disketten geliefert. Wäre cool, wenn du den Postboten dabei nicht töten würdest“, seufzte Abigail, während sie sich auf eine der Liegen legte und das in Kopfhöhe hängende Datenkabel in die neue Buchse in ihrem Hinterkopf steckte.
„Nie darf ick wat. Aber okay, jeht klar“, grinste Ralph und salutierte gespielt, indem er sich mit zwei Fingern lässig an die Schläfe tippte.
„Wenn Typ schon wieder kommen, der immer verkaufen will Sportzeitschriften, den bitte töten“, brummte Yuri und legte sich ebenfalls schwungvoll auf eine der Liegen, die dabei unter seinem Gewicht knarzte. Harry sagte nichts und verdrehte nur die Augen. War es wirklich so eine gute Idee, dass Ralph auf sie aufpasste? Musste man damit rechnen, dass die Villa von einem Sondereinsatzkommando der Polizei umstellt war, wenn sie wieder aus der Simulation aufwachten?
Dann machte er es sich auf einer der beiden verbleibenden Liegen bequem und verband sich wie die anderen mit dem Interface. Der Stecker rastete mit einem leisen Klicken ein. Bis auf ein leichtes Kribbeln auf der Kopfhaut war noch nichts zu merken.
„Wir sind soweit“, bestätigte Abigail.
„Dann lasst uns keine Zeit mehr verlieren“, erwiderte Yanny und ließ sich auf der letzten Liege direkt links von Harry nieder, steckte sich ebenfalls das Kabel ein. „Ihr müsst jetzt die Augen schließen, entspannt euch einfach.“ Sie schlossen die Augen und folgten ihrer Anweisung. Ralph ging zum Lichtschalter und knipste die Deckenbeleuchtung aus. Er warf noch einen Blick auf seine still daliegenden Kameraden, machte ein nachdenkliches Gesicht und verließ dann leise den Raum. Er war im Vorhinein instruiert worden, dass es reichen würde wenn er ungefähr jede halbe Stunde nach dem Rechten sah.
„Entspannt euch… einfach lockerlassen… ganz ruhig atmen…“, hörte Harry Yannys Stimme, die einen angenehm einschläfernden Ton angenommen hatte. Ein beruhigendes Summen machte sich in seinem Körper breit. Während des Hinübergleitens in den Schlaf spürte er dann doch noch etwas. Es war Yannys warme und samtige Hand, die seine Linke ergriff. Mit dem letzten Bisschen Bewusstsein erwiderte er die Berührung, drückte sie sanft. Dann fiel er, fiel schwerelos nach unten.
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