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Elysium Roman 6 – Kapitel 5: Was bedeutet Realität?


Der Straßensamurai fiel hinein in die schier endlose Schwärze einer ihm unbekannten Form von Sein und Existenz. Der Übertritt in diese Sphäre mochte in den ersten Momenten an einen Traum erinnern, doch war es mehr als das. Es war mehr als das bloße Durchleben von Eindrücken und Bildern, die im Wachzustand gesammelt worden waren und in einer Phase der Ruhe verarbeitet werden wollten. Mehr als die Wiederkehr von Erinnerungen und Gelerntem, vermengt zu einem Brei von zufälligen Bruchstücken, die aus der Retrospektive einer instabil wirkenden Zeitlinie des Gedächtnisses herausgefallen waren. Mehr als das, was ein nahezu unmöglich zu erfassendes Unterbewusstsein bereit war preiszugeben. Harry fühlte den Fall durch die Wolken und deren kühle Berührung auf der Haut in einem Schwall aus Sonnenlicht und blauem Himmel und hörte nicht auf zu fallen, hinab auf eine grüne Welt. Was würde passieren, wenn er auf deren Boden aufschlug? Würde er in tausend Stücke zerspringen und seine Atome sich über die gesamte Ebene verteilen? Überwältigt von den Wahrnehmungen kehrte sein Bewusstsein wie ein Donnerschlag zu ihm zurück. Er wusste wieder wo er sich befand, als er nach unten raste und schloss die Augen. War etwas schief gegangen bei dem Eintritt in Yannys Gedankenwelt? Hatte sich sein Körper im Cyberspace vielleicht durch eine Fehlfunktion weit oben in der Atmosphäre zusammengesetzt, nur um jetzt bei einem Aufschlag mit hoher Geschwindigkeit zu zerschellen? Er hielt den Atem an und wagte die Augen nicht mehr zu öffnen, presste die Hände aufs Gesicht und erreichte den Grund.

Gras zwischen seinen Fingern. Vorsichtig ertastete Harry den Boden, öffnete langsam die Augen. Er lag auf einer Wiese. Grillen zirpten ringsumher, Bienen summten und vereinzelt vernahm er das Zwitschern von Vögeln. Es duftete intensiv nach Blumen und Kräutern. Er war am Leben und hatte beim Aufprall keinen Kratzer abbekommen, nichts tat ihm weh. Langsam richtete er sich auf und sah an sich hinunter. Seine Kleidung wirkte wie aus den Untiefen einer erfundenen Menschheitsgeschichte, in der verschiedenste Epochen zusammengewürfelt worden waren. Brauner, fester Stoff, Hose und sehr weites Hemd waren mit Lederbändern geschnürt, dazu einfache Stiefel. Erst jetzt entdeckte er ein Schwert, das neben ihm in der Wiese gelegen hatte. Eine gut austarierte Einhandwaffe, er hob sie auf und besah sich selbst im Spiegelbild deren blankpolierten Klinge. Was bedeutete Realität in einer Welt der allumfassenden Illusion? Alles hier wirkte vollkommen echt und doch befand er sich nur in den Gedanken einer anderen Person. Es war, wie Yanny erklärt hatte, eine Darstellung von Informationen die so tief in ihr abgespeichert waren, dass sie selbst keine Kontrolle mehr darüber hatte. Und doch erlebte er alles in diesem Moment als seine eigene Wirklichkeit.
„Keine Zeit zum Grübeln, müssen los“, brummte Yuris tiefe Stimme hinter ihm. Harry drehte sich um und erblickte seinen Kameraden, der nur mit einem Lendenschurz und Fellstiefeln bekleidet war. Quer über seinen massigen Oberkörper hing ein breites Lederband, das eine mächtige zweischneidige Axt auf seinem Rücken hielt. Er sah damit genauso aus wie einer der Helden aus der TV-Serie, weitaus authentischer als er selbst wie Harry fand. Neben ihm stand Abigail mit verschränkten Armen und völlig zerzausten Haaren. Die beiden mussten ebenfalls vom Himmel gefallen sein. Abigail trug nichts als einen BH und einen knappen Rock aus Leder, dazu leichte, hochgeschnürte Sandalen.
„Schau nicht so genau hin!“, zischte sie Harry an, als dieser sie musterte. „Warum müssen Frauen in Fantasyfilmen auch immer so wenig anhaben?“
„Ich habe keine Ahnung. Ist vielleicht eine Geldfrage um Kostüme einzusparen?“, antwortete Harry ablenkend und schmunzelte, zog sein weites braunes Hemd aus und hielt es ihr hin. Die Programmiererin nahm das Kleidungsstück dankbar entgegen und zog es sich über. Es war so groß geschnitten, dass es sogar noch den Rock der kleinen Person verdeckte und fast bis zu ihren Knien reichte. Sie sah nun so aus als wäre sie auf dem Weg zu einer Pyjama-Party, wirkte aber deutlich zufriedener.
„Nicht mal eine Waffe habe ich bekommen“, murmelte sie dann und krempelte die viel zu langen Ärmel hoch, um ihre Hände vom Stoff zu befreien.
„Wohin gehen wir jetzt eigentlich?“, fragte Harry gen Yuri, um auf seine erste Begrüßung zu reagieren. Sie befanden sich auf einer großen Wiese, die an ein weites, dicht bewachsenes Kornfeld grenzte. Neben dem Feld führte ein Weg entlang. Die hügelige Landschaft stand in sattem Grün. Dem Stand der Sonne nach zu urteilen war es gerade Mittagszeit. Der Hüne deutete in eine Richtung und als Harry mit dem Blick folgte, konnte er in weiter Ferne die Dächer von vielen Häusern und aufsteigenden Rauch erkennen. Der Weg neben dem Feld führte geradewegs auf die Ansiedlung zu, die direkt vor einem gigantischen Waldgebiet lag.
„Dieses Dorf dort erster Anhaltspunkt“, erklärte Yuri und stapfte los. Die anderen beiden sahen sich kurz an, nickten und folgten ihm ohne Widerspruch. Eine Richtung war so gut wie die andere, wenn man kein bekanntes Ziel hatte. Abigail war froh, als sie die Wiese überwunden und den Weg erreicht hatten und sie nicht mehr darauf achten musste, nicht aus Versehen auf eine Heuschrecke oder eine Schnecke in der Wiese zu treten. Deren schleimigen Überreste an den Sandalen kleben zu haben, kam einer Horrorvorstellung für sie gleich.
„Ich glaube ich weiß jetzt, warum diese Helden alle so wenig anhaben“, vermeldete Abigail nach einiger Zeit und spielte damit auf die hohe Temperatur an, während sie neben Harry herstapfte. Sie hatte recht, es war wirklich drückend heiß, ein echter Hochsommertag. Selbst ihr, einer Südländerin auf 86 die das warme Klima Elysiums gewohnt war, machte das hier zu schaffen. Der vorneweggehende Yuri schwitzte ohnehin bereits wie ein Wasserfall und Harry versuchte abzuschätzen, wie lange sie für die Strecke brauchen würden. Der Marsch zog sich hin und die nur vereinzelten Bäume am Wegesrand boten keinen nennenswerten Schatten. Außerdem war es windstill.

Es mochte gut eine Stunde vergangen sein, als sie endlich das Dorf erreicht hatten. Zwischen den sehr einfach gebauten Häusern, deren Dächer teils mit Stroh, teils mit Holzschindeln gedeckt waren, herrschte ein überraschend geschäftiges Treiben. Ein paar Handwerker reparierten das Rad eines Pferdefuhrwerks, andere führten Ausbesserungen an ihren Häusern durch, mehrere Jäger boten an einem Stand erlegte Hasen und Wildschweine zum Verkauf an und eine Frau trug einen vollen Eimer Wasser vom Dorfbrunnen weg. Die ankommende Truppe der TRAP-Agenten sorgte durchaus für den ein oder anderen verwunderten Seitenblick. Zur Begrüßung wurden sie fast von einer Gruppe herumtollenden Kindern umgerannt, die um den Brunnen Fangen spielten.
„Warum schauen Leute komisch?“, brummte Yuri, dem die Blicke natürlich ebenso aufgefallen waren.
„Wundert dich das? Wir gehen bewaffnet und oben ohne in ein wildfremdes Dorf, während Abigail von der Ferne so aussieht als würde ein übergroßes Hemd von alleine herumlaufen“, winkte Harry ab.
„Hey!“, gab die Programmiererin protestierend von sich und knuffte ihm auf diese Bemerkung hin in den Oberarm.
„Hemd, hör auf zu schlagen. Halt lieber Ausschau nach Gasthaus“, brummte Yuri und stapfte weiter in die Siedlung hinein. Er war hungrig und durstig und kannte nur noch ein Ziel.
„Warum bin ich jetzt >HemdHelden< sind, oder nicht vielleicht doch eher zu den >Bösen< gehören…“, überlegte sie und kratzte sich dabei am Hals. Die Methoden die sie manchmal anwandten, mochten nicht in jedem Fall die sanftesten sein. Schnell verscheuchte sie diese Gedanken jedoch wieder. „Ach Mist, jetzt hat der Typ noch kein Besteck gebracht“, fügte sie dann hinzu, als sie zu essen beginnen wollte.
„Besteck?“, grunzte Yuri, der bereits ein halb aufgegessenes Stück Fleisch in der Hand hielt und einfach davon abbiss, während ihm der ölige Bratensaft in den Vollbart lief. Mit der anderen Hand griff er sich eine dampfendheiße Kartoffel und biss auch davon ab, ohne auch nur das Gesicht zu verziehen. Seine lauten Schmatzgeräusche ließen die Gespräche der anderen Gäste im Raum verstummen und wieder waren alle Blicke auf die Agenten gerichtet.
„Ah, nicht so wichtig“, entgegnete sie und beobachtete ihren Kameraden fasziniert. Natürlich wusste sie welche Mengen er verspeisen konnte, aber das hier würde ein Erlebnis der besonderen Art werden. Während sie noch so dachte, kam der junge Mann bereits mit fünf Bierkrügen zurück und verteilte sie auf dem Tisch, wobei er drei davon direkt vor Yuri stellte, der ihm daraufhin anerkennend zunickte.
„Jetzt noch bringen Besteck, damit wir nicht fressen müssen wie die letzten Barbaren“, wies er ihn mit vollgestopften Backen an und ein paar Kartoffelstückchen fielen ihm dabei aus dem Mund.
„N-natürlich!“, gab dieser zurück und rannte erneut los. Wenige Momente später waren sie alle ausgerüstet und nun begannen auch Abigail und Harry zu essen, während Yuri vorsorglich schon die Nachspeise orderte. Indessen begann es draußen mit einem Mal schnell dunkel zu werden. Es war jedoch nicht der hereinbrechende Abend der sich hier ankündigte, sondern schwarze Gewitterwolken die sich vor die Sonne schoben. Wind kam auf und ersten Regentropfen folgte eine Wand aus Wasser und Donner. Ein Unwetter, wie die Agenten es noch nie zuvor erlebt hatten.


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