Elysium Roman 6 – Kapitel 8: Die Erbin des Sehers
December 22, 2023
Kennak-Laar tropfte der Schweiß von der Stirn und er war froh, dass sie hier mittlerweile auf die unpraktischen Schutzanzüge verzichten konnten. Langsam ließ er sich auf den Boden sinken und die anderen fünf Aon-I folgten seinem Beispiel mit zitternden Knien. Sie waren allesamt völlig erschöpft von der schweren Arbeit, aber sie hatten es endlich geschafft und den Eingang zur unterirdischen Stadt an der großen Treppe mit einem mächtigen Tor verschlossen, das sie aus zusammengetragenen Metallplatten geschmiedet hatten. Endlich war es geschafft und der Weg zum Loch, der ehemaligen Endlagerstätte des Atomkraftwerks von POWERS, würde keinem mehr Zutritt gewähren, den sein Volk nicht auf eigenem Gebiet haben wollte. Es existierten zwar noch weitere kleinere Öffnungen zum weitverzweigten Höhlensystem, die den Menschen glücklicherweise bisher verborgen geblieben waren, aber auch diese Zugänge würde man nach und nach verschließen. Zwar hatten die Arbeiter und Söldner des Energiekonzerns inzwischen allen radioaktiven Müll entfernt, die betroffenen verstrahlten Bereiche von Gwyneran akribisch mit Hochdruckstrahlern gereinigt und das Wasser abgepumpt, eine Restgefahr durch die Angriffe versprengter Crawlergruppen auf die zurückkehrenden Aon-I bestand jedoch noch immer. Tausende seines Volkes waren durch die Auswirkungen des Endlagers krank geworden und hatten diese schreckliche Metamorphose durchgemacht, die sie zu den gefühllosen Monstern hatte werden lassen. Deren Zahl war in den letzten Monaten durch den Einsatz der Polizei und den Söldnern von POWERS gesunken. Wie viele sich von ihnen jedoch wirklich noch dort draußen im Untergrund befanden, konnte niemand wissen. Sie lauerten hungrig in den Schatten und warteten nur auf eine Gelegenheit, unachtsame und wehrlose Individuen zu greifen.
Kennak lehnte sich mit dem verschwitzten Rücken gegen das neue, kalte Tor und schaute von der Anhöhe hinab auf die Stadt. Mit seinen Leuten kehrten auch die Lichter wieder zurück in das Gebiet. Jeden Tag trafen mehr Überlebende ein und die Aufräumarbeiten waren in vollem Gange. Jedes neue Licht war ihm ein Funke der Hoffnung auf eine bessere Zukunft und doch konnte all dies nicht über die großen Verluste hinwegtäuschen, die sie durch die Menschen erlitten hatten. Wie viele Familien waren zerrissen oder gänzlich ausgelöscht worden? Wie viel Leid und Schmerz war über sie gekommen? Wie viele Brüder und Schwestern hatten sie verloren? Es würde wahrscheinlich vier oder fünf Generationen dauern, bis die Einwohnerzahl wieder den alten Stand erreicht haben würde. Zudem waren die Bereiche rund um die Stadt durch die Crawler nahezu lebensgefährlich geworden. Sie würden mehr Krieger ausbilden müssen als zuvor um sich zu schützen. Das waren Leute, die auf den Feldern und beim Wiederaufbau fehlen würden. Kennak, der selbst ein Krieger war, fragte sich in diesem Moment wie sehr er die Menschen hasste für das, was sie ihnen angetan hatten. Der Hass und das Misstrauen war inzwischen groß unter den Aon-I, die nichts anderes als ein friedliches Leben gewollt hatten. Immer wieder wurden Stimmen laut die forderten, man sollte in irgendeiner Form Rache nehmen. Der zurückgekehrte Seher und der kleine übriggebliebene Rest des Ältestenrats konnten diese gefährlichen Tendenzen jedoch bisher im Zaum halten. Kennak dachte zurück an das Zusammentreffen mit den TRAP-Agenten, das schließlich die Wende in all dem Chaos gebracht und seine Zivilisation gerettet hatte. Nicht alle Menschen waren gleich, nicht alle waren schlecht. Er vertraute dieser kleinen Gruppe, die sich durch ihren Einsatz hier unten großes Ansehen erworben hatten, auch wenn ihnen das mit Sicherheit nicht bewusst war. Aber er vertraute den anderen Menschen nicht. Solange sie alle nur im Profit ihren einzigen Gott kannten, war jeder direkte Umgang mit ihnen nach Möglichkeit unbedingt zu vermeiden.
„Nimm auch einen Schluck“, hörte er die Stimme von Ehl neben sich, der ihm eine Flasche mit Wasser reichte und er nahm sie dankbar entgegen. Er wollte gerade ansetzen um zu trinken, als er Eiri unten an der Treppe entdeckte. Sie hetzte die Stufen zu ihnen hoch und schien in großer Aufregung zu sein. Er stand auf und ging ihr entgegen, sie war schnell oben am Tor angekommen.
„Was ist los, warum rennst du denn so?“, fragte er sie besorgt, als sie endlich wieder zu Atem gekommen war.
„Die Tochter des Sehers ist verschwunden“, erklärte sie schließlich. In Kennaks Herz tat es einen Stich. Das war eine Katastrophe, gerade jetzt nach all dem Unglück. Seher zu werden und das Volk der Aon-I noch vor dem Senat anzuführen war ein Geburtsrecht, das von einer Generation zur nächsten weitergegeben wurde. Hierbei war es auch Gesetz, dass das Geschlecht wechseln musste. Auf jeden Vater folgte eine Tochter, auf jede Mutter ein Sohn. Die nun verschwundene Tochter war bisher das einzige Kind des Sehers. Damit geriet eine jahrtausendealte Erblinie in Gefahr.
„Wie ist es passiert? Haben die Crawler sie getötet? Hatte sie einen Unfall?“, hakte er angespannt nach und auch die umstehenden Aon-I merkten nun auf.
„Nein, sie ist nicht tot. Jedenfalls nicht, dass wir wüssten. Sie ist einfach abgehauen, davongerannt, hat sogar einen Abschiedsbrief an ihre Eltern hinterlassen“, fuhr Eiri fort.
„Wie bitte? Das ist doch wohl nicht wahr?“, zischte Kennak. „Warum sollte sie etwas Derartiges machen? Ist sie verrückt geworden?!“ Eiri schüttelte nur den Kopf und machte ein missmutiges Gesicht.
„Nein. Ich habe den Brief selbst nicht gelesen aber anscheinend war es wohl eine Mischung aus Zukunftsangst und Selbstzweifel. Ihr Vater ist nicht mehr der Jüngste und sie will das Erbe und damit die Verantwortung nach der großen Katastrophe nicht antreten müssen. Mit ihrem Fortgehen zwingt sie ihn weitere Nachkommen zu zeugen, eine weitere Tochter, die an ihrer statt eines Tages die neue Seherin wird“, präzisierte sie. Kennak sah Eiri an als hätte er den Sinn ihrer Worte nicht verstanden. Er kannte die Tochter von zahlreichen offiziellen Anlässen und hatte sie immer als wohlbehütetes und schüchternes Mädchen wahrgenommen. Nie wäre ihm in den Sinn gekommen, dass sie irgendwann freiwillig ihre Familie und ihre Heimat verlassen würde.
„Und… weiß man wohin sie gelaufen ist?“, fragte er angespannt. Eiri schüttelte nur den Kopf und deutete nach oben.
„In dem Brief hat sie nur geschrieben, dass sie sich durch die Kanalisation nach Elysium durchschlagen wird. Sie weiß genau, dass wir sie dort oben in der Stadt unter dem Himmel nicht werden finden können ohne Gefahr zu gehen, selbst aufzufliegen. Eine einzelne Aon-I mag vielleicht nicht groß auffallen, ganze Suchtrupps von uns die die Stadt durchkämmen jedoch schon. Außerdem können wir keine Leute hier unten entbehren, dafür gibt es viel zu viel zu tun.“ Kennak-Laar blickte nach oben auf das Höhlengewölbe. Eiri hatte zweifellos recht. Dort oben unter Millionen Menschen gab es kaum eine Chance sie zu finden. Es war ein weiterer schwerer Schicksalsschlag für sein Volk.
Fast genau über dem Höhlengewölbe, über den Aon-I die in diesem Moment einmal mehr einer ungewissen Zukunft entgegen sahen, stand das Hauptgebäude von POWERS Generating Plant. Dr. Kelly Malcom glaubte an Elysium, wie schlimm die Lage auch immer aussehen mochte. Sie liebte ihre Heimatstadt mit all ihren Stärken und Schwächen. Von dem großen Panoramafenster ihres Büros aus hatte sie einen guten Blick auf das belebte Straßengewirr des Industrial District, das sich unter ihr ausbreitete. Es war einmal mehr ein langer Tag gewesen. Endlose Meetings, Telefonate, Entscheidungen treffen, Probleme lösen. Die Sache mit dem Atommüll hatte alles für sie noch viel komplizierter gemacht, als es ohnehin schon war. Sie konnte das furchtbare Gefühl nicht loswerden, dass die Entstehung der Crawler auch ihre Schuld gewesen war. Selbstverständlich hatte sie nichts von dem verbotenen Endlager gewusst, aber vielleicht hätte sie etwas erahnen können, es irgendwie merken müssen? Hatte sie klare Anzeichen hierfür bei ihrem Prokuristen übersehen, war sie zu blauäugig gewesen? Hatte ihr blindes Vertrauen zu einer der größten Katastrophen geführt? Sie massierte sich mit den Mittelfingern die Schläfen, um die zunehmenden Kopfschmerzen zu vertreiben, die sie schon seit über einer Stunde plagten und schluckte den Klos im Hals hinunter. Immer wenn sie daran dachte, wie viele der sanftmütigen Aon-I aufgrund ihres Unternehmens ihr Leben gelassen hatten, hätte sie einfach losheulen können. Die Momente in denen sie sich schwach und hilflos fühlte, kamen immer häufiger und in kürzeren Abständen und manchmal wünschte sie sich einfach im Bett bleiben und die Decke über den Kopf ziehen zu können. Allerdings half sie niemandem damit, wenn sie sich in Selbstmitleid oder Trauer vergrub und es war ihr anerzogenes Pflichtbewusstsein und ihre Disziplin, die sie jeden neuen Tag überstehen ließen.
In den letzten Wochen war immerhin viel passiert. Ihre Leute hatten unter Hochdruck die Fässer mit dem radioaktiven Material aus dem Untergrund geschafft und in ein sicheres Endlager außerhalb der Stadt gebracht. Die Höhlen und die Häuser der Aon-I waren akribisch gereinigt und viele Ladungen an Medikamenten und Verbandsmaterial nach unten gebracht worden. All das verursachte auf diese Weise ein Vielfaches mehr an Kosten, als eine fachgerechte Entsorgung von Anfang an gekostet hätte. Wäre ihr Prokurist nicht bereits tot, sie hätte ihn eigenhändig und ohne Reue erwürgt. Diese Arbeit war jedoch bereits von dem japanischen TRAP-Agenten übernommen worden. Es war im Nachhinein auch nötig gewesen, ein paar andere Köpfe in ihrem Unternehmen auszutauschen und hinter Gitter zu bringen, die von den Machenschaften ihres Prokuristen gewusst hatten. Mittlerweile war sie sich aber sicher nur noch Leute um sich zu haben, denen sie auch wirklich vertrauen konnte.
Aus dem Fernseher, den Kelly von Zeit zu Zeit angeschaltet hatte, tönte die gerade laufende Nachrichtensendung. Es kam ein Bericht, dass sich eine neu aufgetauchte Ninjagruppe immer weiter in Elysium verbreitete und niemand wusste genau, wo sie ihren Ursprung hatte. Als hätte diese Stadt nicht schon genug Probleme. Immerhin war die radioaktive Verseuchung so weit eingedämmt, dass keine neuen Crawler mehr entstehen konnten und einige Polizeikräfte freiwerden ließ, die durch die Bedrohung der Crawler in Hundestaffeln gebunden gewesen waren. Allerdings war sie skeptisch, ob man diese japanischen Killer jemals wieder vollständig aus der Stadt würde vertreiben können. In den Nachrichten sprach man von mehreren hundert Mitgliedern dieser Gruppe, was sie zum Nachdenken brachte. Als kleines Mädchen war sie viel mit ihren Eltern gereist, da ihr Vater und auch ihre Mutter geschäftlich in Utopia und in dem noch viel weiter entfernten Neo Tokyo zu tun gehabt hatten. Während Utopia weit im Norden des Festlands lag und ein wesentlich kühleres Klima als Elysium hatte, musste man für Neo Tokyo entweder mit einem Schiff oder mit einem Langstreckenflugzeug den Ozean überqueren. Von allen diesen drei Hauptstädten war Neo Tokyo die mit Abstand größte und modernste. Viele Dinge liefen dort ganz anders als hier oder im russisch geprägten Norden. Ob sie dieses schier endlose Meer an Wolkenkratzern, diese unfassbare Skyline jemals wieder sehen würde? Immerhin war sie schon viele Jahre nicht mehr zum Reisen gekommen, da ihre berufliche Verantwortung sie nahezu permanent an dieses Büro gefesselt hatte. Und überhaupt machte es keinen Spaß, alleine zu reisen. Sie hatte niemanden, mit dem sie hätte neue Eindrücke teilen und sich über ihre Entdeckungen hätte freuen können. Kelly seufzte und hob ihr Mobiltelefon vom Schreibtisch auf. Dann zog sie die bereits ganz abgegriffene Visitenkarte der TRAP-Agentur aus der Brusttasche ihrer Bluse und drehte sie – wie schon unzählige Male zuvor in den letzten Wochen – zwischen ihren Fingern.
„Ich bin ein verdammter Feigling! Warum rufe ich sie nicht einfach an? Aber was soll ich dann sagen?“, sprach sie mutlos zu sich selbst. Alleine bei dem Gedanken, diese interessante junge Frau am Telefon zu sprechen, die sie nur so kurz hatte kennenlernen können und dann auch noch in dem Strudel all der schrecklichen Ereignisse, ließ ihr einen Schauer seltsamer Empfindungen über den Rücken laufen. Was hätte sie sagen sollen? Frau Abigail Lindsay, wollen Sie mit mir in den Urlaub fahren? Nein, niemals! Außerdem konnte sie die Dame nicht mit Vor- und Nachnamen ansprechen… Wie wäre es mit: willst du mit mir Essen gehen? Warum sollte Abigail mit ihr Essen gehen wollen? Sicher hatte sie als Agentin schon wieder einen spannenden und gefährlichen Auftrag und war irgendwo in einer geheimen Mission unterwegs. Vielleicht trug sie dabei einen hautengen Anzug, der ihr wohlgeformtes Hinterteil richtig gut zur Geltung bringen würde? Kelly seufzte und tippte sich selbst an die Stirn. Immer wenn sie so in diese Gedanken fiel, begann sie an der Antenne des Mobiltelefons zu kauen. Definitiv eine schlechte Angewohnheit, die sie unbedingt loswerden musste. Wahrscheinlich waren die letzten Monate einfach zu viel für sie gewesen, sodass ihr immer wieder diese sonderbaren Bilder in den Sinn kamen. Sie starrte auf das Nummernfeld und dann wieder auf die Visitenkarte der TRAP-Agentur. „Verdammt! Willst du mit mir einen Kaffe trinken gehen?! So schwer ist das doch nicht!“ rief sie schließlich laut. Die Putzfrau, die inzwischen hinter ihr ins Zimmer gekommen war, starrte sie mit höchst verwundertem Blick an.
„Oh Miss Malcolm, ich habe aber noch Dienst…“, sagte sie verwirrt. Kelly Malcoms Kopf wurde rot wie eine Tomate.
„Äh, ich meinte nicht… ich…“ Auf den misslungenen Erklärungsversuch folgte peinliches Schweigen.
„Soll ich später wiederkommen?“, fragte die Putzfrau zurück und deutete auf die Hand von Dr. Malcom, da sie annahm, dass die Chefin aufgrund des gehaltenen Mobiltelefons noch ein Gespräch führen wollte. Kelly seufzte abermals tief. Nein, sie würde heute kein Telefonat mehr führen, weil sie ein verdammter Feigling war wenn ihr jemand wirklich gefiel. Und dass dieser jemand diesmal eine Frau war, machte sie nur noch unsicherer. Wie gut kannte sie sich eigentlich selbst? Dann schüttelte sie nur den Kopf, rief das Sushirestaurant um die Ecke an und bestellte sich ein Abendessen ins Büro. Als sie damit fertig war, verzog sie das Gesicht zu einem säuerlichen Ausdruck. Sie war 35 und aß alleine am Abend im Büro. Schon wieder…
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