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Elysium Roman 7 – Kapitel 3: Der Köder wird ausgelegt


Sonntag, 05:30 Uhr
Carla Brandon hatte sich an die telefonische Abmachung gehalten und die majestätische Riesenyacht Sea Lord wartete genau am vereinbarten Treffpunkt am Nordstrand. Die Witwe von Dennis Dexter war nach all der Zeit tatsächlich nicht weiter überrascht gewesen wieder von der TRAP-Agentur zu hören, hatte aber natürlich den Grund für deren Bitte erfahren wollen. Die Erklärung hatte sie umgehend überzeugt und sie hatte sofort zugesagt, das Mini-U-Boot weit genug hinaus auf die offene See zu ziehen. Die Aussicht auf eine etwaige Destabilisierung der gesamten Stadt und die Gefahr einer Invasion durch die PZN wären für sie in höchstem Maße geschäftsschädigend, dies galt es unter allen Umständen zu verhindern. Die Crawlerkrise hatte den Drogenkonsum in Elysium und damit ihre Haupteinnahmequelle nicht weiter beeinflusst. Die Gefahr der Errichtung einer Militärdiktatur russischer Prägung in ihrem Areal war jedoch ein anderes Kaliber und an den damit einhergehenden Konsequenzen hatte sie kein Interesse.

Abigail hatte sich von Yanny in den letzten drei Tagen grob in die Steuerung des Mini-U-Bootes einweisen lassen und mithilfe einer Datenkabelverbindung von der Bordsteuerung zu ihrem Gehirn hatte der Crashkurs für sie gereicht, um das Gefährt bis hin zum Zielort zu lenken. Diese neu implantierte Buchse in ihrem Hinterkopf begann sich also auch bereits in anderen Bereichen bezahlt zu machen. Der Andockvorgang zur Schleuse unterhalb der vor Anker liegenden Luxusyacht brachte sie dann doch noch gehörig ins Schwitzen. Glücklicherweise war der Bereich mit Pontons aus Hartgummi geschützt, die ein Anschlagen und damit etwaige Beschädigungen am Schiff vollständig verhinderten. Als das Unterseeboot endlich wieder an seinem eigentlich angestammten Platz hing und Harry, Yuri und Abigail durch die Luke ausgestiegen waren, wurden sie von Carla und zwei ihrer Leibwächter willkommen geheißen. Die mächtigste Frau der Unterwelt Elysiums war wie immer mit einem aufwändigen blauen Kleid perfekt gestylt und wirkte, als wäre sie gerade auf dem Weg zu einem Gala-Dinner.
„Ach, was für ein spannender Besuch! Wie schade, dass wir uns gerade unter so widrigen Umständen wiedersehen. Sie haben damals ganz fantastische Arbeit geleistet und wir hatten leider nicht einmal die Gelegenheit, ihren Sieg ausgiebig zu feiern“, flötete sie den Agenten entgegen, die sich über eine schmale, wankende Brücke in ihre Richtung bewegten. Als sie Yuri erspähte, der als letzter ausgestiegen war, hellten sich ihre Gesichtszüge noch weiter auf. „Oh, da ist ja auch Herr Yuri Sokolov…“
„Sie erinnern sogar meinen Nachnamen?“, fragte Yuri ehrlich erstaunt. Carla musterte ihn mit funkelnden Augen und einem Lächeln auf den Lippen.
„Selbstverständlich, so stattliche Männer wie sie trifft man leider nicht oft, da prägt sich ein solch wuchtiger Name ganz leicht ein“, gab sie leicht säuselnd zurück um dann in die Runde zu fragen: „Müssen Sie eigentlich vollkommen nüchtern bleiben oder wollen wir noch mit einem kleinen Glas Champagner auf unser Wiedersehen anstoßen? Es wird ja gut zwei Stunden dauern, bis wir die Koordinaten erreicht haben an denen Sie sich mit dem Unterseeboot ausklinken werden.“
„Vollkommen nüchtern leider“, nickte Harry knapp.
„Wie schade, hmmm… wo haben Sie denn Ihre bezaubernde Kollegin gelassen? Die junge Ärztin, die Sie am Ring unterstützt hat“, fragte Carla gen Harry weiter und deutete den dreien dabei, ihr zu folgen. Die anlaufenden Motorengeräusche hier unten begannen die Unterhaltung zu stören und sie wollte ihren Gästen – wenn auch nur für die kurze Aufenthaltszeit – zumindest ein kleines bisschen Annehmlichkeit bieten. Die drei kamen der Aufforderung gerne nach und begleiteten Carla und deren Leibwächter über die Treppe nach oben.
„Unsere Ärztin ist leider verhindert“, erwiderte Harry wieder nur knapp mit ernstem Gesicht, während sein Blick angespannt und geistesabwesend wirkte. Abigail, die direkt hinter ihm ging, musterte ihn besorgt. Natürlich machten sie sich alle Sorgen um Yanny, aber sie hoffte inständig Harry würde sich bei der bevorstehenden Aktion nicht von seinen Bedenken beeinflussen lassen. Sie brauchten neben einer guten Portion Glück einen kühlen Kopf mehr als alles andere. Sie brauchten ihn in seiner absoluten Bestform, diesmal mehr als je zuvor.
„Das ist wirklich schade. Nun, wenn das alles vorbei ist wäre es schön, wenn Sie vielleicht alle zusammen zu einem meiner nächsten Empfänge kommen würden? Dann könnten wir immer noch gemeinsam anstoßen. Möchten Sie vielleicht stattdessen etwas anderes, etwas Alkoholfreies? Mein Barkeeper Dave mixt ganz hervorragende Cocktails aus Saft und Soda, dann bekommen Sie gleich noch eine ordentliche Portion Vitamine“, fuhr Carla freundlich fort.
„Ich muss dringend zu Frau Muller“, wurde sie abrupt von Yuri unterbrochen, der seinen Satz so betont unverfänglich wie nur möglich vorbrachte.
„Zu Frau Muller?“, erwiderte Carla, lachte dann und blickte ihn fragend aus großen Augen an. Mittlerweile hatten sie das obere Stockwerk erreicht und standen auf Höhe der Küche. Die Millionärin hatte nicht erwartet, dass der Agent ausgerechnet eine ihrer Stewardessen vor so einem wichtigen Auftrag sprechen wollte.
„Ja“, nickte Yuri und knetete seine Hände.
„Geht es da auch um eine geheime Operation? Frau Muller hat mir nie den Eindruck gemacht, als dass sie in irgendetwas verwickelt sein könnte. Aber stille Wasser sind ja bekanntlich tief“, flüchtete sie sich in eine Plattitüde und schürzte die Lippen.
„Ja, streng geheim“, bestätigte der Hüne mit einem Pokerface und spitzte die Ohren. Immerhin arbeitete Lisa noch hier auf dem Schiff, dann würde er wenigstens die Gelegenheit haben sie zu sprechen. Hoffentlich.
„Ja nun, Sie geben mir aber früh genug Bescheid wenn Frau Muller in einer Sache steckt, die mich als ihren Arbeitgeber interessieren sollte? Die Dame müsste sich hier irgendwo auf dem Stockwerk befinden, Sie können gerne nach ihr suchen. Ich entführe inzwischen Ihre Kollegen noch einen Stock höher zur Bar, falls Sie nachkommen möchten. Dave brennt sicher schon darauf ein paar Drinks zu mixen, nicht umsonst nennt man ihn >den heißesten Schüttler vom Nordstrand<“, erklärte sie.
„Selbstverständlich und danke“, brummte Yuri freundlich und stapfte umgehend los als die kleine Gruppe deutlich merkte, wie die Sea Lord in diesem Moment an Fahrt aufnahm. Der Hüne hörte noch dumpf wie Carla weiter quasselnd seine Kameraden nach oben bugsierte, während er auf dem Gang eine Türe nach der anderen öffnete um die Stewardess zu suchen. Da sich außer der Besatzung keinerlei andere Gäste auf der Yacht befanden, waren selbst die Türen zu den verschiedenen Räumen nicht abgeschlossen, die sonst dem Personal vorbehalten waren. Zu seinem Glück dauerte es nicht lange und er fand Lisa Muller in einer Gruppe mit zwei anderen Damen, die gerade damit beschäftigt waren den Vorratsraum der Küche auf Vordermann zu bringen. Er erkannte sie sofort wieder. Ihr hübsches Gesicht mit der Stupsnase und den blauen Augen, der lange brünette Pferdeschwanz und die helle Stimme, die in einen geschäftigen Singsang verfallen war. Wie oft hatte er in den vergangenen Monaten an sie gedacht? Unzählige Male war er wach gelegen und hatte sich an die beiden kurzen Begegnungen mit ihr erinnert. Warum hatte diese Frau so einen bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen, den auch das kurze Abenteuer mit der Sekretärin von Dr. Kelly Malcom nicht ansatzweise hatte verblassen lassen können? Lisa hatte etwas an sich, das ihn wie magisch anzog. Er musste es einfach versuchen, er musste alles auf eine Karte setzen.
„Rebecca, was hältst du davon wenn wir die Packungen mit dem Mehl mehr auf die linke Sei…“, sagte Lisa zu ihrer Kollegin, als sie plötzlich Yuri kommen sah und ihren Satz nicht mehr zu Ende führte. Sie schien zu überlegen, wo sie diesen Mann mit der imposanten Erscheinung schon einmal gesehen hatte.
„Frau Muller, bitte Sie verzeihen das Störung, ich… ähm… mein Name ist Yuri Sokolov, ich Sie gerne würde sprechen können zu dürfen…“, stotterte Yuri und merkte, wie ihm das Amerikanisch durch eine Welle der aufkommenden Nervosität nun völlig zu entgleiten schien. Er kannte sich in diesem Moment selbst nicht mehr. Lisa und ihre beiden Kolleginnen in ihren schicken weißen Uniformen musterten ihn interessiert und kicherten. Yuri trug einen schwarzen Kampfanzug mit einem engen Oberteil, das um seine muskulösen Arme spannte. Hätte er sich nicht bewegt, hätte man ihn für eine klassizistische Abbildung einer antiken Gottheit halten können und doch wirkte er in dem Moment so hilflos schüchtern wie ein kleiner Junge.
„Sie wollen mich sprechen?“, fragte Lisa, die auf Yuris Frage völlig perplex und wie angewurzelt stehen blieb. Momente später spürte sie Rebeccas Hände im Rücken, die sie langsam in Richtung des großen Fremden schoben.
„Steh’ da nicht so herum, der Typ ist total scharf, tu’ doch was, schnell!“, zischte ihr Rebecca gepresst ins Ohr. Die im Wilden Westen aufgewachsene Dame mit dem blonden Bob scherte sich überhaupt nicht darum, dass Lisa eigentlich ihre Vorgesetzte war und sie war schon lange der Meinung, dass ihr eigener Dienst etwas entspannter werden würde, wenn ihr Deckoffizier sich endlich einmal nach einem Freund umsähe.
„Also nur eine Minute mit Ihnen sprechen, wenn wäre möglich, eventuell“, sagte Yuri.
„Eine Minute ist überhaupt kein Problem!“, kicherte Rebecca. „Wir sind hier ohnehin gleich fertig.“ Lisa verzog das Gesicht als sie noch weiter nach vorne gedrückt wurde, nickte aber dann gen Yuri und ging mit ihm den Gang zurück in Richtung Treppe, um aus der Sichtweite ihrer Kolleginnen mit den vor Neugierde immer länger werdenden Hälsen kommen.
„Ich glaube ich erinnere mich an Sie“, sagte Lisa langsam zu Yuri, als sie gemeinsam um die nächste Ecke gebogen waren. „Der Abend des großen Kampfsportturniers vor einigen Monaten. Sie waren vollkommen betrunken und… und mit ihrer Gattin an Bord zu Gast“, rekapitulierte Lisa nachdenklich. Yuri schüttelte nur den Kopf.
„Abigail, sie ist nicht meine Frau, sie ist meine Arbeitspartnerin. Das alles nur Tarnung war“, erklärte er. Mit jedem Moment der verging, wurde er ein kleines Stückchen ruhiger. Immerhin hatte er sich gut vorbereitet. Dann griff er in die Hosentasche, zog ein gefaltetes Stück Papier hervor und reichte es ihr. „Bitte Sie lesen, ich wusste ich werden nervös sehr, deswegen alles was ich will sagen aufgeschrieben. Eine andere Freundin die gut Russisch spricht mir hat geholfen meine Gedanken zu übersetzen. Das hier auf Zettel ist was ich will sagen, alles.“ Es stimmte, Yannys Russischkenntnisse waren inzwischen so gut, dass sie Yuris Brief hatte eins zu eins ins Amerikanische übersetzen können. Zusammen hatten sie dieses Schreiben schon gestern aufgesetzt für den Fall, dass er Lisa wirklich wiedersehen würde. Zögerlich nahm sie das Papier entgegen, faltete es auf und begann mit gedämpfter Stimme zu lesen:

„Bitte um Verzeihung, dass ich Sie einfach so angesprochen habe, aber ich konnte nicht anders. Vor ein paar Monaten haben wir uns zweimal nur ganz kurz gesehen und beim ersten Mal war ich noch ziemlich angetrunken. Diesen schlechten ersten Eindruck, den Sie von mir gewonnen haben kann ich vielleicht niemals mehr geradebiegen, auch wenn ich mir nichts sehnlicher wünschen würde. Vielleicht aber würden Sie mir doch eine Gelegenheit geben, dass wir uns kennenlernen können? Ich weiß nichts über Sie. Ich weiß nicht ob Sie einen Freund haben und mich abweisen werden, sobald Sie diese Zeilen zu Ende gelesen haben. Ich weiß nicht was Sie gerne essen, kenne Ihre Lieblingsmusik nicht, nicht Ihre Ziele, nicht Ihre Träume. Alles was ich weiß ist, dass Sie mir nicht mehr aus dem Kopf gehen und ich all dies gerne von Ihnen erfahren würde.

Gerade eben bin ich auf dem Weg zu einer Mission von der ich nicht sagen kann, ob ich sie überleben werde. Einmal mehr, denn das ist mein Beruf. Mein Leben ist durch Gefahr bestimmt, deshalb bin ich kein Mann den sich eine Frau wünschen würde. Würden Sie dennoch einmal mit mir ausgehen?“

Lisa ließ den Brief sinken und betrachtete Yuri eine ganze Weile nachdenklich. Sanfte Augen hatte er, dachte sie bei sich. Augen, die nicht so recht zu seiner martialischen Erscheinung zu passen schienen. Er stand ruhig da und wartete ihre Antwort ab. Es war eine sonderbare Situation, etwas derartiges war ihr bisher noch nie passiert und als Bedienstete hier auf der Yacht hatte sie viele Männer und ihre Annäherungsversuche erlebt. Es war oft vorgekommen, dass gerade Herren mit sehr viel Geld versucht hatten sie direkt und ohne Umschweife zu kaufen und die plumpen, ewig gleichen Anmachsprüche hatte sie in den letzten Jahren genug gehört. Mit all dem hatte sie nie irgendetwas anfangen können. Sie verdiente ihr eigenes Geld und wollte kein Spielzeug oder eine Trophäe, ein Vorzeigeobjekt für einen Millionär werden. Ein Objekt, das man fallen lässt wenn man das Interesse daran verliert. Jetzt stand dieser Mann vor ihr, der sich extra hatte helfen lassen einen Brief zu schreiben, weil er befürchtete vor Nervosität ihr gegenüber nicht mehr die richtigen Worte in ihrer Sprache finden zu können. Und das alles nur, weil er sie vor Monaten kurz getroffen hatte. Eigentlich machte er ihr den Anschein, als wäre er ein Mann dem gegenüber eher die Damenwelt nervös werden würde. Sie lächelte ihn an als sie so dachte und er lächelte zurück, offen und herzlich. Sie fand es wirklich süß, dass er sie nicht vergessen und sich diese Mühe gemacht hatte. Sie fühlte sich nicht bedrängt, ganz im Gegenteil, sie war wirklich geschmeichelt von seinem Brief. Er war ihr richtig sympathisch, machte einen sehr netten Eindruck. In jedem Fall kein alltäglicher Mann. Mit einer langsamen Bewegung zog sie einen Stift aus der Brusttasche ihrer Bluse und schrieb ihre Telefonnummer auf den Brief, hielt ihn Yuri wieder entgegen.
„Hier ist meine Nummer. Nächste Woche habe ich Landurlaub. Wir können gerne etwas zusammen unternehmen“, sagte sie mit weicher Stimme. Daraufhin strahlte Yuri übers ganze Gesicht.
„Vielen Dank, ich freue mich schon sehr groß darauf“, nickte er. Dann zog er eine Visitenkarte der Agentur aus seiner Hosentasche und reichte sie ihr. „Nur zur Sicherheit auch meine Nummer.“ Er hatte aus Abigails Fehler gelernt, die die Telefonnummer von Viktor Konakow damals auf der Flucht von der Sea Lord an das salzige Meerwasser verloren hatte.
„Dankeschön“, erwiderte Lisa, als sie die Karte entgegennahm. Als sie die Aufschrift las, stutzte sie kurz. „TRAP-Agentur – Die Agentur für besondere Fälle? Das klingt spannend. Ich freue mich jetzt schon drauf, was Sie so alles erzählen können“, lächelte sie. Beide hatten nicht bemerkt, dass Cassy und Rebecca, Lisas Kolleginnen, mit großen Ohren um die Ecke standen und lauschten, sich dann grinsend zunickten und wieder zurück zur Speisekammer huschten.

Sonntag, 09:30 Uhr
Ralph lenkte den Agenturwagen in die Straße der Müllverwertungsanlage im Industrieviertel ein. Während der Fahrt hatten sie, anders als sonst, kaum ein Wort gewechselt. Wenn sie üblicherweise zusammen für Besorgungen oder zu Gesprächen mit Kunden unterwegs waren, hatten sie sich immer viel zu erzählen gehabt, hatten zusammen gescherzt und gelacht. Ralph hatte eine Menge verrückter Dinge erlebt und war ein nicht enden wollender Quell an spannenden und sonderbaren Geschichten. Heute war alles anders, die Stimmung war angespannt und bedrückt. Yanny saß auf der Rückbank und überprüfte ihre Ausrüstung und ihre Waffen noch einmal akribisch, legte an der ein oder anderen Stelle noch einen Tropfen Öl aus einem winzigen Fläschchen nach und zog die Verschlüsse ihrer kugelsicheren Weste und ihrer verstärkten Handschuhe fest. Sie hatte sich für zwei der schweren silbernen Colts mit dem größten ihnen zur Verfügung stehenden Kaliber und den modifizierten Patronen entschieden, die sie nun in Holstern an den Oberschenkeln trug. Dazu ein vollautomatisches Maschinengewehr und zwei Handgranaten mit überproportionaler Sprengkraft, die sie in den Hosentaschen trug. Zwei volle Patronengürtel hingen ihr am Oberkörper. Das kleine Stofflama hingegen saß neben ihr auf der Rückbank und sah ihr dabei zu, wie sie nochmals ihre Ausrüstung überprüfte. Yanny wusste, dass sie Lazarus nur so lange auf Distanz halten musste bis sie die Möglichkeit bekam zuzuschlagen, durfte sich keinesfalls auf einen Nahkampf einlassen. Sie würde in Bewegung bleiben müssen, durfte nicht stehen bleiben oder sich in eine Ecke drängen lassen. Es würde schon klappen, es musste einfach. Mit den Waffen die sie am Körper trug würde sie ihren Gegner, der das Gehirn und das Herz Artjom Gromows in sich trug, alleine nicht zerstören können. Dazu brauchte es mehr, eine Maschine mit genug Druck und einen Ort von dem ihr Gegner sich nicht fortbewegen würde, solange er die Chance sah sie zu vernichten. Deswegen waren sie hierher gekommen, zur Müllverwertungsanlage. Die Bänder standen am Sonntag still, niemand arbeitete dort und im Viertel war an diesem Tag ohnehin weniger los, weil sich die Arbeiter zumeist im Westteil der Stadt aufhielten. Lazarus’ erster Anschlag auf die Safecorp war ebenfalls hier in diesem Stadtteil geschehen. Die Rüstungsproduktion lag unweit von ihrem jetzigen Standort. Vermutlich hielt er sich immer noch in der Nähe auf. Yanny würde sich Zugang zu der Halle verschaffen, den riesigen Müllzerkleinerer anschalten und Lazarus rufen, ein einfaches Kabel und ein Teletextinternetanschluss würden hierfür genügen. Wenn es den anderen gelang ihn aus der Ferne zu destabilisieren, musste sie ihn nur noch in den Trichter des Zerkleinerers befördern und fliehen. Die Energiegeneratoren in seinem Torso machten ihr hierbei noch die meisten Sorgen, denn sie würden unter dem Druck der Walzen zweifellos explodieren und es war nicht abzusehen, wie stark die davon ausgehende Druckwelle sein würde.

Ralph parkte den Wagen mit etwas Entfernung auf der anderen Straßenseite der Müllverwertungsanlage. Er wusste was er zu tun hatte, es war der gleiche Ablauf wie bei jeder größeren Mission. Er würde im Wagen warten und mit Yanny fliehen, wenn Lazarus erst einmal besiegt war. Notfalls würde er den Rückzug sichern, eine geladene Pumpgun lag hierfür bereits auf dem Beifahrersitz. Es hätte nichts geholfen, hätte er Yanny auf ihrem Weg begleitet. Ihr Gegner verfügte über ein nahezu perfektes Zielsystem, es würde ihm nicht anders ergehen als den Wachleuten in der Safecorp. Als Mensch war er zu langsam. Für Lazarus wäre er nur eine Zielscheibe gewesen, nicht mehr. Als er den Motor abgestellt hatte vergingen ein paar weitere Momente des Schweigens.
„Dann mache ich mich mal auf den Weg“, sprach sie leise auf dem Rücksitz und ihre Hand ging zum Türgriff, nachdem sie sich noch kurz den Pferdeschwanz gerichtet hatte. Sie griff nach dem Lama und nahm es hoch auf ihren linken Arm, was das Stofftier mit einem Muh kommentierte.
„Moment noch“, sagte Ralph und Yanny hielt ein.
„Ja?“
„Wat verschweigst du mir?“, fragte er mit ruhiger Stimme und streckte dabei die Zeigefinger vom Lenkrad ab. Sie setzte zu einer Antwort an, hielt aber dann inne. Er nickte daraufhin langsam. „Ick bin ja nicht blöd, Klartext Madame: die Lage ist viel beschissener als ihr sie dargestellt habt, ist es nicht so? Diese russische Kampfmaschine hat alleine eine kleine Privatarmee wegjeblasen und jetze kommen wir handvoll Figuren und legen uns mit dem an. Dat ist ungefähr dat Bekloppteste, was wir überhaupt machen können.“ Sie presste die Lippen aufeinander und ließ den Blick auf ihr Gewehr sinken.
„Ja“, flüsterte sie nur. Ralph seufzte tief, zog einen Zigarillo aus seiner Jackentasche und zündete ihn an, stieg dann aus dem Wagen, umrundete ihn und öffnete ihr die Türe. Sie stieg aus und die beiden standen sich gegenüber.
„Es jeht mich ja nichts an, aber hat es dir Harry mal jesagt?“, fragte er schließlich, während er auf dem Zigarillo kaute.
„Was denn?“ Yanny legte den Kopf schief und sah ihn neugierig an.
„Na, dat er dir liebt? Wat denn sonst?“, grinste Ralph kurz.
„W-wie? Wie meinst du? N-nein, woher weißt du das? Hat er dir gegenüber mal etwas erwähnt?“, fragte sie verunsichert zurück.
„Der braucht nix sagen, das sieht doch ein Blinder. Oder meinst du vielleicht mir altem Sack fällt sowat nicht auf? Der leuchtet doch wie ne Nachttischlampe, wenn er in deiner Nähe ist“, zwinkerte er ihr zu. „Magst du ihn denn auch?“ Sie nickte auf die Frage so schnell, dass ihr Pferdeschwanz wippte und ein Lächeln huschte dabei über ihre Lippen.
„Aber jesagt hast es ihm nicht?“, bohrte er nach und kniff dabei skeptisch ein Auge zu.
„Nein, nie so richtig direkt. Wir haben uns aber zweimal an der Hand gehalten“, flüsterte sie. Ralph seufzte noch tiefer, schüttelte mit dem Kopf und rieb sich dabei die Augen. Dann nahm er einen tiefen Zug von seinem Rauchwerk und blies den blauen Dunst in eine andere Richtung.
„Eieieiei… Madame. So wird dat nix. Warum tut ihr da auch so lange herum, wenn ohnehin schon allet klar ist?“
„Ich bin keine normale Frau… Er…“, entgegnete sie zögerlich.
„Könntest du dir unseren Harry mit einer >normalen< Frau vorstellen? Mit so nem Heimchen am Herd vielleicht?“, wehrte Ralph grinsend ab. „Wenn du jemanden wirklich magst, musst du ihm dat auch sagen. Vielleicht ist es sonst zu spät und du bereust es, kannst es nicht mehr nachholen. Aber du wirst deine Gelegenheit noch bekommen, dat weiß ick. Du wirst dem Lazarus in den Arsch treten, egal wie stark er auch immer sein und wie scheiße alles aussehen mag. Und dann machen wir uns hier vom Acker. Ick glaub an dir, hab ick vom ersten Moment an.“ Yanny schloss die Augen und sie umarmten sich fest und lange.
„Danke“, sagte sie mit leicht zitternder Stimme.
„Ick warte hier auf dir. Mach dir keine Sorgen“, nickte er lächelnd. Dann lösten sie sich und Yanny marschierte auf die große, graue Anlage zu ohne sich noch einmal umzudrehen. Das kleine Lama drückte sich eng an sie.


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